Als ich am nächsten Tag um kurz nach acht auf den Trainingsplatz trat, traute ich meinen Augen kaum: Rubin Okotie und Andreas Pereira standen da, die Gesichter keine fünf Zentimeter voneinander entfernt und keiften sich an und schienen kurz davor, einander an die Gurgel zu gehen. „Was ist hier schon wieder los?! Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?!“ wütete ich. „So langsam hab' ich die Schnauze gestrichen voll von dem Kindergarten hier. Ihr beiden geht ab unter die Dusche. Rubin, du bist Punkt 8:30 in meinem Büro und Andreas, du Punkt 9:30. Kommt eine Sekunde zu spät und ihr könnt euren Spind ausräumen! Alle anderen –“ ich sah die Mannschaft an „Alle anderen dürfen als kleine Teambuildingmaßnahme 25 Runden um den Platz laufen.“ sagte ich, während Pereira und Okotie von dannen schlichen. Ich warf eine Oxy ein und humpelte hinter beiden her.
Das Straftraining – geleitet von Lars – dauerte dann lediglich etwas mehr als eine halbe Stunde, die restliche Mannschaft hatte sich ja tatsächlich nichts zu schulden kommen lassen und auch wenn die Boulevardblätter natürlich irgendwie Wind von der Sache bekommen hatten, wollte ich die Situation nicht gänzlich zum eskalieren bringen. Allerdings wollte ich der Mannschaft direkt klarmachen, dass man als Mannschaft eben für einander einstehen musste – auf dem Platz und erst recht daneben.
Pünktlich um 8:30 betrat Rubin Okotie mit missmutigem Gesichtsausdruck mein Büro. „Setz dich.“ sagte ich und der Österreicher tat wie geheißen. „Hab' ich mich gestern nicht klar genug ausgedrückt?! Habe ich nicht klar genug gesagt, dass ich von euch beiden nichts mehr hören will?!“
„Schon, aber –“
„Und lass mich gefälligst ausreden!“ funkelte ich ihn an. „Ich habe noch nicht mit Emma Claire darüber geredet, weil ich euch die Möglichkeit geben wollte, euch zu rechtfertigen. Also?“
„Andreas hat schon wieder angefangen, zu provozieren. Er hat mich die ganze Zeit angestarrt.“ meinte Okotie.
Ich atmete tief durch und warf eine Oxycodon ein. „Er hat dich angeschaut? Du willst mich wohl verarschen?!“ schrie ich ihn an.
„Ich hab' ihm gesagt er soll das lassen, aber er hat die ganze Zeit weiter gegafft wie so 'n Bekloppter.“
„Und deswegen zieht ihr schon wieder so 'ne Show ab?!“
„Wer nicht hören will, muss fühlen.“ patzte Okotie und ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Außerdem bin ich eine Führungspersönlichkeit im Team, ich hab' den Verein hier über Saisons hinweg allein am Leben erhalten! Er hat mir einfach Respekt zu zollen! Und unser 'Kapitän' hätte ja auch mal etwas dazu sagen können.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte ich barsch. „Entweder du sagst was du meinst oder du hältst den Rand. Diese Andeutungen gibt es bei mir nicht!“ sagte ich, wohl wissend, was Okotie meinte.
„Dominik [Stahl] kümmert sich einen Dreck um seine Aufgaben als Kapitän. Ich wäre der viel bessere Kapitän als er, aber seitdem sie hier sind, wird der Kapitän ja einfach bestimmt und nicht gewählt. Ganz abgesehen davon, dass der Topstürmer eines Vereins mehr spielen sollte!“
„Also fandest du meine Entscheidung falsch, ihn zum Kapitän zu machen?“ fragte ich ruhig. „Und dass ich mit dir den besseren Stürmer zu oft auf der Bank lasse?“
„Das habe ich nicht – jedenfalls wäre ich der bessere Kapitän. Lassen Sie es mich beweisen. Und ich bin der beste Stürmer hier.“
Ich legte eine kurze Denkpause ein und sah aus dem Fenster nach draußen, ehe ich meinen Blick wieder auf Okotie richtete. „Ich denke ich habe alles gehört, was ich hören musste. Du wirst dich beweisen dürfen.“
„Tatsächlich?“ fragte er und die Kinnlade klappte ihm vor Schreck nach unten.
„Ja, du darfst dich beweisen – bei der U19!“ sagte ich mit erhobener Stimme. „Ich will dich nicht mehr in der Nähe der Profimannschaft sehen. Du attackierst einen Mannschaftskameraden, nachdem du selber erst meine Elfmeterrangliste untergraben und das Ding noch verballert hast. Du fängst wegen Augenkontakt auf dem Trainingsplatz beinahe eine Prügelei an und du hast es schon vor der Saison nicht ertragen, dass ich dich nicht zum Vizekapitän gemacht und aus dem Mannschaftsrat genommen habe!“ Er sah mich verwundert an. „Du brauchst gar nicht so blöd zu gucken, denkst du ich merke das nicht? Und darüber hinaus kritisierst du permanent meine Entscheidungen, untergräbst meine Autorität und stellst dich über deine Mitspieler – und das dulde ich nicht! Jón hängt sich im Training voll rein und seine Leistungsdaten sprechen Bände! Du solltest dir für deinen nächsten Verein eine Sache merken. Ein Verein, das ist eine kleine, eigene Welt. In dieser Welt gibt es das Volk, das seid ihr – die Spieler. Ihr alle gleichermaßen! Es gibt Polizei und Verwaltung, das ist der Trainerstab. Es gibt ein hohes Gericht, das sind der Vorstand und Emma Claire und es gibt einen Gott und das bin einzig und allein Ich. Mein Wort ist das Gesetz. Mein Reich komme. Mein Wille geschehe. Im Training und erst Recht im Spiel. Wer das nicht akzeptiert, fliegt! Ich werde es nicht zulassen, dass du durch dein arrogantes Getue das Team kaputt machst. Du kannst gehen!“ schrie ich ihn an. „Du trainierst bis zum Saisonende mit der A-Jugend, und im Sommer werden wir einen neuen Verein finden!“
Er saß regungslos da. Ich stand auf, humpelte durch den Raum und riss die Tür auf. „Raus!“ wiederholte ich lauter.
Rubin Okotie stand auf und ging wie paralysiert aus dem Büro. Kaum hatte er die Schwelle überquert, donnerte er die Tür des Büros zu.
Ich informierte kurz Lars per SMS über das Offenkundige, was er dann Emma Claire mitteilen sollte, denn als nächstes stand nun das Gespräch mit Andreas Pereira auf dem Plan. Auch er war überpünktlich und betrat mein Büro.
„Trainer.“ begann der kleingewachsene Brasilianer.
„Also, Andreas –“
„Ich weiß, dass mein Verhalten –“ unterbrach er mich.
„Hatten wir das mit dem Ausreden nicht?“ fauchte ich und der Belgo-Brasilianer nickte betreten. „Also, ich habe euch den Termin gewährt, weil ich euch anhören wollte, bevor ich Emma einschalte. Rubin hatte seine Stunde, jetzt hast du deine. Also?“ fragte ich fordernd.
„Ich weiß, dass mein Benehmen indiskutabel war. Ich war einfach sauer, weil er mir den Ball weggeschnappt hat und weil wir verloren haben. Ich hab' mich daneben benommen. Das wird nicht noch einmal passieren.“ unterbrach er mich. „Solche Sachen haben nichts in der Mannschaft zu tun.“
„Völlig richtig.“ stellte ich nach einer kurzen Pause fest. „Daher wirst du auch einsehen das ich daraus meine Konsequenzen ziehen werde.“
Er schwieg und sah bedrückt zu Boden. Erneut sah ich aus dem Fenster und mimte ein längeres Nachdenken, ehe ich weitersprach. „Ich nehme an, du bist mit 10 Tagessätzen Geldstrafe einverstanden?“ fragte ich. „Und zusätzlich wirst du deinen nächsten freien Sonntag in der Münchener Universitätsklinik verbringen und Kinderherzen höher schlagen lassen.“ fügte ich hinzu und konnte in Gedanken schon den Gesichtsausdruck von Niels sehen, wenn ich ihm das erzählen würde.
„Ich flieg' nicht aus der Mannschaft? Ich hab' gehört, bei Rubin –“
„Du hast richtig gehört. Rubin gehört nicht länger dem Kader der ersten Mannschaft an. Er ist bis auf weiteres suspendiert und wird bei den A-Junioren mittrainieren.“ sagte ich und Andreas sah mich mit großen Augen an. „Du hast deinen Fehler eingesehen. Er nicht.“ erklärte ich. „Aber damit wir uns verstehen: Ich gebe Leuten eine zweite Chance, wenn sie sie sich verdienen. Aber ich gebe keinem eine dritte Chance. Wenn sowas nochmal passiert, dann kannst du deine Koffer packen, verstanden?“
„Natürlich.“ antwortete der Brasilianer und ich nickte.
„Dann bist du jetzt offiziell für den Tag entlassen. Wir sehen uns Montag.“ fügte ich hinzu. Andreas stand auf und verließ mein Büro, während ich es ihm gleichtat und in Richtung Kabine stiefelte. Dort informierte ich die Mannschaft dann noch über die Suspendierung Okoties und im Groben die Hintergründe, ehe ich die Spieler ebenfalls in den Feierabend verabschiedete.
Die kommende Woche über war an ruhiges Arbeiten im Training nicht zu denken. Die Story war natürlich binnen Stunden in der Presse, doch in der Außendarstellung übernahm Emma Claire die Planung und so ließ zumindest die Presse die restliche Mannschaft in Ruhe. Am Ende der Woche stand dennoch ein wichtiges Ligaspiel an – gegen den 1. FC Nürnberg würden drei Punkte nötig sein, um den Anschluss an Werder Bremen nicht völlig zu verlieren. Mit sieben Veränderungen in der Startelf im Vergleich zur Niederlage gegen den SVW gingen wir ins Spiel und hatten die im Abstiegskampf steckenden Nürnberger früh geknackt: Andreas Pereira kam nach Doppelpass mit Nicklas Bärkroth aus aussichtsreicher Position an den Ball, legte jedoch nochmal quer auf Jón Böðvarsson. Der tunnelte László Sepsi und stand frei vor Raphael Schäfer, den er mühelos mit einem Flachschuss bezwang. Keine Minute später tauchte der Isländer erneut vor dem Kasten auf, doch diesmal wehrte Schäfer den Ball zur Ecke ab. Diese wurde vor den Strafraum geklärt, wo Stark den Ball behauptete und Julian Börner auf links bediente. Dessen Flanke wurde länger und länger und senkte sich unhaltbar in die lange Ecke – doch vom Innenpfosten prallte der Ball wieder weg. Im Gegenzug konterte der „Glubb“ uns eiskalt aus: Behrens legte den Ball auf den linken Flügel, wo Tim Leibold Fahrt aufnahm. Der Flügelstürmer setzte sich gegen Georg Teigl durch und flankte scharf auf den Kurzen Pfosten, wo Burgstaller die Fußspitze in den Ball hielt und Michael Ortega bezwang. Doch es war der einzige Lichtblick im Angriffsspiel der Nürnberger, die jetzt wieder und wieder in Bedrängnis gerieten: Erst wurde ein Schussversuch von Yannick Stark zur Ecke geklärt, dann kratzte Ondřej Petrák einen Kopfball von Böðvarsson von der Linie. Doch kurz vor der Pause nahm das Spiel dann nochmal Fahrt auf: Wie ein vom Teufel besessener sprang Tim Leibold kurz vor dem Strafraum mit beiden Beinen und voller Absicht von hinten in Georg Teigl hinein und sah folgerichtig glatt Rot. Den Freistoß übernahm Andreas Pereira und streichelte das Leder unhaltbar über die Mauer hinweg in die lange Ecke. Nach dem Treffer verflachte die Partie zusehends. Georg Teigl versuchte es mit einem Distanzschuss und scheiterte, ebenso Rúrik Gíslason nach einer interessanten Eckenvariante. Kurz vor dem Abpfiff lag der Ball dann aber doch nochmal im Tor: Kai Bülow, der nach langer Zeit mal wieder eine Chance bekam, verlängerte einen Eckball von Maxi Wittek auf den zweiten Pfosten. Jón Böðvarsson hatte sich im Rücken seiner Bewacher davongeschlichen und nickte das Leder völlig mühelos in die Maschen – 3:1, der Endstand.
Quellen: Okotie, Böðvarsson |