„...Ruhe in Frieden, Nele. Du warst eine wundervolle Person und der beste Mensch, der mir je begegnet ist. Und ich hoffe, du und Sophia, ihr seid jetzt an einem besseren Ort.“ Niels brach mit erstickter Stimme ab und stütze sich am Rednerpult ab. Dann, nach fast einer Minute, ging er zurück zu den Sitzplätzen und übergab das Mikrofon mit Tränen in den Augen an seinen Nachredner, der dem Körperlichen Aussehen und den Verweinten Augen nach Neles Bruder zu sein schien. Niels kam das kleine Treppchen vom Rednerpult der Kirche herunter und stellte sich wieder auf seinen Platz neben mir. Wie ihr euch schon denken könnt, waren Niels' Frau und Tochter in dem brennenden Haus gewesen und nur Niels hatte es überlebt. Das Feuer war durch „einen undefinierbaren Brandherd in der Küche“ entstanden, Brandstiftung war „nicht auszuschließen, aber sehr unwahrscheinlich“ hieß es im Polizeibericht. Auch wenn ich vorher schon aufgewacht wäre, hätte ich wohl nichts tun können, denn das Feuer hatte sich in rasendem Tempo auf das Schlafzimmer nebenan und das Kinderzimmer über der Küche ausgebreitet. Beide seien an einer Rauchvergiftung friedlich im Schlaf gestorben meinte ein Einsatzbeamter zu uns, auch wenn ich das eher als beruhigende Lüge denn als Wahrheit empfand, aber so wirklich ändern tat das nichts. Ich hatte mich vom Verein für die Dauer der Länderspielpause krankgemeldet, was auch ohne Nennung persönlicher Details des Feuers ging – der Check gegen die Motorhaube hatte mir eine leichte Gehirnerschütterung verschafft und so war es nicht schwer, einen Arzt zu finden, der mich krankschrieb. Neles Bruder, der sich als Niclas vorstellte, hielt ebenfalls eine für Leute mit irgendeiner Emotionalen Bindung zu den verstorbenen mit Sicherheit berührende Grabrede, was auch Niels deutlich erkennbar zeigte: Er sackte in sich zusammen, vergrub das Gesicht in den Händen und ich musste ihn mühevoll stützen, so dass er nicht zusammenklappte. Es folgten noch weitere Grabreden von Neles Eltern, ihrer besten Freundin und einem Arbeitskollegen, doch irgendwie überstand Niels die Veranstaltung ohne Nervenzusammenbruch. Doch als die Geistlichen den Sarg – Niels hatte darauf bestanden, seine Frau und Tochter gemeinsam zu bestatten – aus der Kapelle und zur Grabstelle trugen, konnte er nicht mehr an sich halten und musste sich erstmal kurz setzen, ehe er sich dem Trauermarsch anschließen konnte. So schaffte er es auch, den beiden vor dem Grabstein noch die letzte Ehre zu erweisen – auch wenn an einen offenen Sarg aus offensichtlichen Gründen nicht zu denken war.
Die Veranstaltung war um kurz nach drei am Nachmittag vorbei und ich blieb mit Niels noch lange vor Ort: Wir saßen auf einer Bank in der Nähe des frischen Grabs, und schwiegen vor uns hin. Ich wusste, wie es Niels gerade ging, und ich wusste es besser, als es irgendjemand wissen sollte, aber ich wusste nicht, was ihm helfen könnte. Die Zeit verstrich und wir saßen beide einfach nur da, während sich langsam die Menschentraube aus den anderen trauernden auflöste.
„Danke, dass du mitgekommen bist.“ beende Niels schließlich das schweigen
„Dafür nicht. Ich kann dich in so einem Zustand nicht alleine lassen.“
„Danke. Trotzdem.“
„Willst du reden?“ fragte ich vorsichtig. „Über irgendwas?“
„Nein. Ja. Ich... Ich weiß es nicht.“ sagte Niels und stütze seinen Kopf auf seine Hände. „Wie machst du das? Wie schaffst du das?“ fragte er schließlich und hob hilfesuchend den Kopf.
Ich dachte nach, ehe ich antwortete. „Man steht morgens auf und setzt einen Fuß vor den anderen. Und irgendwann findet man etwas, wofür es sich lohnt weiterzukämpfen.“
„Und wenn nicht?“
„Man findet etwas. Irgendwann.“ sagte ich bestimmt. „Bei mir – war es der Fußball.“
„Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.“ erwiederte Niels. „Sie waren meine Welt, mein Leben. Ich meine, wenn ich auch da gewesen –“
„Hör auf.“ fiel ich ihm ins Wort.
„Was?“
„Hör auf damit. Du warst nicht da, und darüber solltest du froh sein.“ sagte ich.
„Aber ich bin es nicht. Ich hätte an ihrer Stelle in dem Haus sein sollen, oder wir beide. Aber doch nicht Sie! Vor allen Dingen nicht Sophia“ antwortete Niels.
„So habe ich auch lange gedacht. Aber es kann einen immer Treffen. Überall und jederzeit. Und manchmal trifft es dich. Also, wenn du dir wirklich um etwas Sorgen machen willst, dann sorge dich um morgen.“ erklärte ich mich. Niels sah mich mit einer Mischung aus Trauer, Wut und Verzweiflung an.
„Weißt du was? Du hättest alleine in dem Haus sein sollen.“ sagte er dann und stand auf. Ich ließ ihm ein paar Meter Vorsprung, ehe ich ihm folgte. Scheinbar wollte er jetzt nach Hause und dann würde ich mitkommen müssen – er hatte ja aktuell kein Haus und auch wenn wir vereinbart hatten, dass er bis auf weiteres bei mir schlafen würde, hatte er auch für mein Haus noch keinen Schlüssel.
„Tut mir Leid, dass ich –“
„Schon ok.“ sagte ich und warf Niels einen Blick zu, der Verständnis ausdrücken sollte. „Lass uns fahren.“
Die Tage strichen ins Land und ich wartete verzweifelt darauf, dass sich so etwas wie Normalität einfinden würde. Niels hatte das Gästezimmer im oberen Stockwerk bezogen und von der Arbeit selbstverständlich eine Freistellung erhalten, doch trotzdem ging es ihm nicht ein bisschen besser. Er verbrachte fast den ganzen Tag in seinem Zimmer, aß kaum etwas und ich bemerkte öfters, wie er Nachts zu den verkohlten Ruinen seines ehemaligen Hauses schlich und sich dort zwischen Asche und Trümmern stundenlang hinsetzte und einfach nur dasaß. Doch nach fünf Tagen schien sich die Lage zu bessern, denn ich wachte vom Geruch nach gebratenem Speck und Rührei auf.
„Guten Morgen.“ sagte der am Herd stehende Niels zu mir, als ich in den offenen Kochbereich kam – er war komplett bekleidet und seine Koffer standen im Flur.
„Was ist hier los?“ fragte ich verwundert.
„Ich habe in den letzten Tagen sehr viel nachgedacht.“ antwortete Niels. „Und ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde nach Spanien ziehen.“ Fügte er an.
„Was?“ fragte ich verwirrt.
„Ich spreche Spanisch, ich war zwischen Schule und Studium für ein Jahr in Argentinien. Ich habe schon Flugtickets für den Abend und für die ersten zwei Wochen ein Hotelzimmer in Barcelona.“
„Sagtest du Flugtickets? Plural?“
„Keine Sorge. Ich fliege alleine, aber eben mit Zwischenlandung in Kopenhagen. Deswegen Tickets.“
„Ok... Aber warum?“
„Ich weiß es auch nicht. Aber ich werde mich davon niemals erholen, wenn ich hier wohnen bleibe. Ich will so viel es geht in meinem Leben ändern. Neues Land, neue Sprache, neues Leben.“
„Und du denkst, das funktioniert?!“ fragte ich aufgebracht.
„Keine Ahnung. Aber ich muss es probieren.“
„Nein, musst du nicht! Du musst hier dein Leben in den Griff bekommen!“ wurde ich lauter.
„Du hast doch das gleiche gemacht, und auch gedacht es wäre die Richtige Entscheidung!“
„Da siehst du mal, wie beschissen das funktioniert!“
Niels schwieg und atmete tief durch. „Sigurður, ich verstehe dich ja und ich verstehe deinen Standpunkt. Aber es tut mir Leid, ich muss das tun. Danke für alles aber – meine Entscheidung ist gefallen.“
Ich schluckte, aber nickte dann. Da war mit Logik oder Argumenten scheinbar nichts zu gewinnen. „Ok. Ich bringe dich zum Flughafen, dann sparst du dir die Taxikosten.“ antwortete ich kalt und wandte mich zum gehen.
Keine drei Stunden später stand ich mit Niels in der Eingangshalle des Flughafens Hobro, von wo aus sein Flug gehen würde. „Auf Wiedersehen.“ sagte ich schließlich, nachdem wir uns eine Weile schweigend ansahen.
„Mit Sicherheit, irgendwann.“ antwortete Niels.
Ich hielt ihm meine Hand zum Händedruck entgegen und erntete einen verwirrten Blick – vermutlich hatte er mit etwas herzlicherem gerechnet, dennoch verabschiedete er sich mit einem Männerhandschlag von mir.
„Danke für alles. Und wenn du mich irgendwie brauchst, sag Bescheid. Du hast ja meine E-Mail-Adresse.“ sagte Niels. „Achja, und wegen deiner Oxy: Das habe ich geklärt, wenn du das nächste Mal in der Klinik ein neues Rezept brauchst, frag' nach Dr. Prøndes.“ fügte er an. Ich nickte zustimmend und quasi im gleichen Moment wandten wir uns beide zum Gehen – ich zum Parkplatz, Niels zu seinem neuen Leben in Spanien.
Quellen: Sarg, Flugtickets
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