Die kommenden Tage, die ich noch frei hatte, hatte ich in Hobro intensiv über meine Zukunft nachgedacht und die „Verganenheit“ in Island ruhen lassen. Niels hatte ich ein paar mal gesehen, er sprach mich auf das Thema nicht an und ich war ihm dankbar dafür. Zwar war ich innerlich noch ein wenig aufgewühlt, aber darüber reden wollte ich auf keinen Fall. Seine Frau Nele dagegen ließ keine Gelegenheit aus, mir zu demonstrieren, dass ihr mein Verhalten gegen den Strich ging. Wann immer ich ihr beim Verlassen des Hauses auch nur für einen Augenblick begegnete, hagelte es böse Blicke und ich war mir ziemlich sicher, dass sie mehrfach kurz davor war, mich anzukeifen. Niels hatte ihr also wirklich nicht gesagt, warum er über Nacht plötzlich weg musste und auch dafür war ich ihm dankbar. Es ging sie nichts an und wenn sie dann sauer auf mich war, dann war das eben so, und Zwischen ihr und Niels schien wieder alles einigermaßen im Lot – und wenn nicht, war das eigentlich auch nicht mein Problem. Doch so wirklich vorangekommen war ich mit meiner Zukunftsplanung in all dieser Zeit nicht – einerseits war mir klar, dass Hobro nicht das Ende der Fahnenstange war und ich früher oder später den Sprung in eine Top-Liga und irgendwann zu einem Top-Verein machen musste und würde – die Möglichkeiten für einen sportlichen Aufstieg in Hobro waren doch sehr begrenzt. Allerdings war mir auch klar, dass ich aktuell noch keine wirkliche Chance auf eine Top-Liga hatte. Zwar hatte ich lose Anfragen von deutschen Zweitligisten – Sandhausen, Fürth und angeblich auch Duisburg – doch der Weg in die Bundesliga war dort lang, steinig und ungewiss. So kam für mich bei einem Wechsel nur entweder ein Zweitligist aus einem Top-Land in Frage oder ein großer Verein aus einem kleineren Land. Ich hatte zwar über die Medien von einem angeblichen Interesse von Kopenhagen erfahren und angeblich war auch der Schottische Verein Hearts of Midlothian an mir interessiert, aber so wirklich der Knaller waren diese Stationen nicht und eigentlich auch kein wirkliches Update zu Hobro. Da würde mir ein Vereinswechsel sogar eventuell einen Image-Schaden zufügen und ich würde meine Chancen auf einen Wechsel zu einem großen Verein mit einem Treuebekenntnis zu Hobro vermutlich sogar steigern. So entschied ich mich vor meiner Rückkehr zum Vereinszentrum dann doch für eine Vertragsverlängerung in Hobro, sofern Jens Sørensen denn ebenfalls mit mir verlängern wollen würde – seit dem Saisonabschlussspiel hatte ich mit ihm kein Wort gewechselt und ich war mir recht sicher, dass er darüber nicht besonders begeistert war – von meinem Auftreten während des Spiels ganz zu schweigen. Als ich so an meinem ersten Arbeitstag nach meinem „Kurzurlaub“ in mein Büro kam, fand ich wieder einmal einen der gelben Post-Its von Jens auf meinem Stuhl – moderne Technik war für den Mann wohl auch ein Fremdwort. „In mein Büro“ hieß es darauf – als ob man wie bei einem Telegramm pro Zeichen bezahlen müsste, dachte ich mir und humpelte genervt den Flur hinauf.
Jens Sørensen war schon von weitem zu erkennen, er saß in seinem Büro hinter seinem Schreibtisch, eine Pose in der man ihn auffallend oft vorfand. Ich schritt den Flur hinauf, trat in die geöffnete Tür und blieb mit fragendem Gesichtsausdruck im Türrahmen stehen. Jens bemerkte mich, sah kurz auf und wandte den Blick dann wieder dem Bildschirm seines Computers zu.
„Das mit dem Post-It war schon clever. Auf meinem Sitz platziert. Entweder musste ich ihn also lesen oder könnte mich nie wieder hinsetzen.“ sagte ich, um irgendeine Reaktion hervorzurufen – vergebens.
„Soll ich nochmal wiederkommen, wenn ihr Porno zuende ist?“ fragte ich, obwohl ich anhand der Spiegelung im Fenster hinter ihm eindeutig sehen konnte, dass er irgendeine E-Mail schrieb. Doch immerhin sah er jetzt erneut hoch, rollte zwar mit den Augen aber bedeutete mir gestenreich, mich zu setzen. Ich setzte mich und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, wie hoch meine Chancen auf einen neuen Vertrag waren – tendenziell wohl eher schlecht, aber immerhin nicht gänzlich abhanden.
„Wollen sie mit mir über ihr letztes Spiel reden?“ fragte er mich schließlich und grinste süffisant.
„Dass, das wir gewonnen haben und weswegen wir nächstes Jahr Europa League spielen?“ fragte ich und lächelte arrogant zurück.
„Sie wissen, was ich meine.“
„Ich habe getan, was nötig war und ins Spiel eingegriffen. Dann hat die DBU getan, was nötig war und mir eine Strafe aufgebrummt. Und jetzt tun sie, was nötig ist und stauchen mich zusammen. Können wir den Teil einfach überspringen?“ fragte ich gelangweilt.
Jens stutzte kurz und ich musste ein amüsiertes Kichern unterdrücken. Erstaunlich, wie leicht ihn solche Aussagen noch immer aus dem Konzept brachten.
„Nein, können wir nicht!“ fauchte er dann. „Was sie getan haben, hat...“ Bla, Bla, Bla. Ich schaltete mental ab und ließ die Worthülsen über mich ergehen. Natürlich musste er mich zurechtstutzen, ich hatte ja schließlich – und ich zitiere aus der Urteilsverkündung des DBU – „gegen den den Fußball tragenden Fairplay-Gedanken massiv verstoßen“ und das durfte er ja nicht tolerieren. Während ich in Gedanken schwelgte, hatte er scheinbar zuende geredet. Ich sah in eine Weile schweigend an und nickte dann langsam und mit scheinbar niedergeschlagener Mimik – ihm schien das zu genügen, denn er wechselte zügig das Thema.
„Also, kommen wir dann zu unserem eigentlichen Gesprächsthema. Ihr Vertrag läuft in wenigen Wochen aus.“
„Stimmt.“ sagte ich und spielte den Gesprächsball zurück. Jens wollte das Thema wohl nicht selbst anschneiden, ohne eine Einschätzung von mir vorher zu hören, da hatte er wohl Pech gehabt.
„Sie sind aktuell durchaus eine Option als Cheftrainer für die kommende Saison. Allerdings haben wir noch andere, aussichtsreichere Kandidaten an der Hand, so dass wir –“
„Bullshit!“ fuhr ich dazwischen. Jens sah mich verdattert an und rang um Fassung.
„Sie haben keine besseren Kandidaten in Aussicht. Ich habe diesen Verein als Aufsteiger nach Europa gebracht, und daran würde man meinen Nachfolger messen. Das heißt, sie bräuchten da einen richtig guten Trainer und ein richtig guter Trainer mit Namen würde sich ihr Angebot nichtmal anhören. Also würden sie entweder einen großen Namen holen müssen, der früher mal gut war. Aber auch da dürften sie Probleme kriegen, den nach Hobro zu holen. Also könnten sie höchstens das bestehende funktionierende Konstrukt durch einen neuen unbekannten Trainer versuchen zu verbessern, oder einen bekannten, der noch nie nennenswerten Erfolg hatte. Also bin ich ihre beste Option und da sie ein Feigling sind und nicht noch einmal einen No-Name holen werden, vermutlich sogar ihre einzige.“ sagte ich und lehnte mich siegesgewiss zurück. Jens sah mich eine Weile lang an, und ich wusste dass er nach einer Möglichkeit suchte, sich da wieder herauszureden – er fand keine.
„Gut, sie haben recht. Also, einigermaßen. Ja, sie sind sportlich sicherlich die beste Alternative für den Verein. Aber ob sie menschlich tragbar sind, kann ich ihnen nicht auf Dauer versprechen. Daher enthält ihr neues Vertragsangebot“ – er griff nach einem Zettel aus seiner obersten Schreibtischschublade – „auch eine Kündigungsklausel. Der Verein kann sie demnach für eine Abfindungszahlung von 100.000€ freistellen. Außerdem kann sie ein anderer Verein für 500.000€ aus dem Vetrtrag herauskaufen, als kleines Entgegenkommen. Was sagen sie?“ fragte er mich.
Ich streckte die Hand aus und nahm den Vertrag entgegen. Ich überflog die Zeilen – der Vertrag war exakt der gleiche, den ich vor einem Jahr unterschrieben hatte – ergänzt um die eben genannten Klauseln und mit einer Gehaltserhöhung versehen. Ich tat nachdenklich, wohlwissend dass ich kein besseres Angebot von Jens bekommen würde. Schließlich nickte ich langsam und streckte meine Hand aus, in die mir Jens in Sekundenbruchteilen einen geöffneten Füllfederhalter legte. Ich setzte meine Unterschrift unter den Vertrag und konnte fast spüren, wie sich Jens selbst zu dieser Leistung beglückwünschte und in seiner elenden Selbstgefälligkeit badete.
Ich stand auf und drehte mich zum gehen. „Es war mir wie immer eine Freude.“ sagte ich, ohne mir einen ironischen Unterton verkneifen zu können. Jens überhörte das und setzte hastig seine Unterschrift neben meine.
„Aber halt, sie können noch nicht gehen!“ rief er dann, als ich schon halb zur Tür hinaus war. Ich drehte mich um und sah ihn fragend an.
„Ich brauche noch eine Aussage von ihnen zur Vertragsverlängerung für die Zeitungen. Irgendeine Begründung oder Stellungnahme, gerade wegen der Wechselgerüchte zuletzt!“
„Zitieren sie mich. Denken sie sich irgendwas nettes aus, aber bitte nicht zu viel Fußballromantik. Ich bin kein Wappenküsser und ich werde es nie sein.“ sagte ich und schloss die Tür hinter mir, auch um dem Widerspruch von Jens Sørensen entgehen zu können. Ich schritt schnell durch den Flur nach draußen und sog die kühle Morgenluft ein – das Abenteuer Europa wartete und ehe ich mich an die Arbeit setzte, musste ich mir erst einmal einen guten Kaffee besorgen.
Quellen: DFB-Gebäude, Vertragsunterschrift |