Ich stand auf dem Balkon unseres Apartments und sah über die Brüstung hinweg auf die Stadt. Es wurde langsam Nacht in München und die Dunkelheit streckte ihre Finger über die in der Abenddämmerung kaum merklich schimmernde Skyline der Innenstadt. Ich stand da und dachte nach, dachte einfach nur nach – über mich, über mein Leben, über meine tote Frau, über Amanda und über Niels und darüber, was mir der Psychiater gesagt hatte. Ich wusste nicht, wie lange ich da stand und wie viele Whisky und Oxycodon ich mir genehmigte, doch irgendwann hatte ich für mein Gefühl genug getrunken und genug gedacht. Wie automatisch stieg ich langsam auf einen der Mahagonistühle, die neben dem Geländer standen, und lauschte den Geräuschen der tiefer werdenden Nacht. Es war trotz der zentralen Lage erstaunlich Still, kein Windhauch regte sich und die Motorengeräusche waren kaum wahrnehmbar. Dafür drang leise der Klang des Radios aus der Nachbarwohnung zu mir – die ersten Akkorde des Songs „Bullet“ der Band „Hollywood Undead“ drangen an mein Ohr. 'Was für ein Klischee' dachte ich mir, während ich die Augen schloss und dem Liedtext lauschte – es war eine erstaunliche Kombination aus traurigen Lyrics mit fröhlicher Melodie, und irgendwie machte genau das die melodramatische Klischeehaftigkeit aus.

My legs are dangling off the edge,
The bottom of a bottle is my only friend,
I think I'll slit my wrists again and I'm gone, gone, gone,
My legs are dangling off the edge,
A stomach full of pills didn't work again,
I'll put a bullet in my head and I'm gone, gone, gone...


Ich hob langsam den linken Fuß und stellte mich damit auf die dem Geländer zugewandte Armlehne eines unserer Balkonstühle. Der Stuhl stand fest und wackelte nicht ein bisschen, was mich angesichts meines Gewichts in Verbindung mit den dünnen Stuhlbeinen dann doch verwunderte. Ich sah in die Nacht und ließ den Blick und die Gedanken schweifen. Ich dachte über mein Leben nach, über meine Vergangenheit. Im Grunde genommen war das menschliche Bewusstsein ein tragischer Fehltritt der Evolution, die Menschheit war sich seiner selbst zu sehr bewusst geworden. Die Natur hatte dadurch einen Blickwinkel auf die Natur geschaffen, der von ihr getrennt war. Wir haben uns zu Kreaturen entwickelt, die es den Naturgesetzen nach gar nicht geben dürfte. Wir sind Dinge, die sich mit der Illusion abmühen, ein 'Ich' zu besitzen als Glorifizierung all unserer sinnlichen Erfahrungen und Empfindungen, allesamt programmiert mit der Gewissheit, dass wir alle jemand seien – wobei doch in Wahrheit jedermann ein Niemand war. Was war schon das Leben einzelner Menschen, das Schicksal eines einzigen, gemessen am Universum.

Gone too far, yeah I'm gone again,
It's gone on too long, tell you how it ends,
I'm sitting on the edge with my 2 best friends,
One's a bottle of pills and one's a bottle of gin,
I'm 20 stories up, yeah I'm up at the top,
I polish off this bottle, now it's pushing me off,
Asphalt to me has never looked so soft,
I bet my momma found my letter, now she's calling the cops...


Die Stimme drang mit einer schier unbändigen Präzision mitten in meinen Kopf. 'one's a bottle of pills and one's a bottle of scotch' murmelte ich, während ich den Blick hob und die Sterne ansah. Ich vertiefte mich im Pechschwarz der Nacht und in den funkelnden Gestirnen und doch hing ich mit den Gedanken nicht im hier und jetzt, sondern in der Vergangenheit. Vergangenheit. Es war einfach beschissen. Die Zeit lief und lief dahin, unzählige Leben und unzählige mehr. Zeit. Was war Zeit überhaupt? Klar, wir kannten sie, aber was hatte sie für einen Sinn – gab es sie überhaupt wirklich? Oder war sie nicht vielmehr eine Illusion, mit der wir versuchten, unsere Sterblichkeit zu kontrollieren. Denn innerhalb unserer Dimension, innerhalb der die Zeit linear verlief, da hatten wir die Kontrolle über das was Gegenwart und was Vergangenheit war. Aber außerhalb unserer Dimension – würde unsere Raumzeit flach aussehen. Das war die Ewigkeit. Ewigkeit, die auf uns herabsieht, unbarmherzig und kalt. Ich spürte, wie ich mich bewegte und langsam von der Armlehne des Stuhls auf das Geländer stieg. Ich stützte mich mit einem Arm an der Decke des Balkons über uns ab und hörte, wie mit einem dumpfen, fast schon erstickten Geräusch mein Gehstock auf dem Boden landete.

I gotta take this opportunity before I miss it,
'Cause now I hear the sirens and they're off in the distance,
Believe me when I tell you that I've been persistent,
'Cause I'm more scarred, more scarred than my wrist is,
I've been trying too long with too dull of a knife,
But tonight I made sure that I sharpened it twice,
I never bought a suit before in for my life,
But when you go to meet god, you know you wanna look nice.
So if I survive, then I'll see you tomorrow, yeah I'll see you tomorrow...


Ich dachte über die Zeilen nach und schloss erneut die Augen. Und ich versuchte, mein Verhalten selber nachzuvollziehen. Denn eigentlich lebte ich in den Tag hinein und eigentlich war alles in Ordnung. Ich redete mit anderen Menschen, ich lachte mit ihnen – na gut, mit Niels – und fühlte mich in Ordnung. Nicht glücklich, aber auch nicht wirklich nicht. Doch nun stand ich hier, abends und alleine, und merkte, dass nichts davon wirklich stimmte. Ich war traurig, tief in mir. Und der Psychiater hatte Recht gehabt, es ging mir nicht gut. Ich schrie zwar nicht um Hilfe, aber ich hätte sie wohl doch gebraucht. Das ganze Leben war eigentlich eine Kette von Illusionen. Die einzige Wirklichkeit – die einzige Wirklichkeit war der Tod. Ich spürte, wie mich irgendeine imaginäre Kraft zu drücken schien, wie mich irgendetwas auf den Abgrund lenkte.

My legs are dangling off the edge,
The bottom of a bottle is my only friend,
I think I'll slit my wrists again and I'm gone, gone, gone, gone,
My legs are dangling off the edge,
A stomach full of pills didn't work again,
I'll put a bullet in my head and I'm gone, gone, gone, gone...


Ich dachte an meine Frau, an unsere Zeit in Island. Und ich dachte an Amanda und wie es ihr wohl ging – hatte sie einen neuen Freund in Spanien? Ich fragte, ob sie es wohl mitbekommen würde – sicherlich, dafür war ich mittlerweile bekannt genug. Aber würde es sie treffen? Vermutlich nicht. Würde es irgendjemanden wirklich treffen? Meine Mutter wohl kaum, Niels vielleicht – aber er würde darüber hinwegkommen, früher oder später. Die Lücke, die ich hinterlassen würde, würde mich vollkommen ersetzen, gestand ich mir ein und ich fühlte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Sie brannten und sie blendeten, meine Sicht verschwamm mehr und mehr. Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Ich würde nicht weinen. Nicht heute. Nicht jetzt. Ich würde das beenden, ohne Tränen zurückzulassen und aufrecht, wie ein Mann. Ich überlegte kurz, ob ich noch irgendetwas hinterlassen sollte – eine Nachricht, einen Brief, irgendwas. Doch ich entschied mich dagegen – manchmal lag im Schweigen einfach mehr Wahrheit, als 1.000 Worte es je ausdrücken könnten.

We hit the sky, there goes the light, no more sun, why's it always night?
When you can't sleep, well, you can't dream,
When you can't dream, well, what's life mean?
We feel a little pity, but don't empathize,
The old are getting older, watch a young man die,
A mother and a son and someone you know, smile at each other and realize you don't
You don't know what happened to that kid you raised,
What happened to the father, who swore he'd stay?
I didn't know 'cause you didn't say,
Now momma feels guilt, yeah momma feels pain,
When you were young, you never thought you'd die,
Found that you could but too scared to try,
You looked in the mirror and you said goodbye,
Climbed to the roof to see if you could fly...


Sigurður!“ schrie eine Stimme hinter mir und ich drehte mich um – was ich besser nicht getan hätte. Ich verlor das Gleichgewicht und kippte – kippte in die falsche Richtung. Niels war durch die Balkontür gekommen und rannte auf mich zu, ich stürzte vom Geländer ihm entgegen. Und dennoch begann ich zu glauben, zu verstehen, warum so viele Menschen dem Tod in den letzten Momenten nicht traurig, sondern zufrieden entgegensehen. Weil sie ihn ihren letzten Sekunden Erleichterung spüren. Erleichterung, weil sie merken, wie leicht es im Endeffekt doch ist, einfach loszulassen. Und weil sie erkennen, dass alle Gefühle, die sie hatten – all die Liebe, der Hass, die Angst, die Freude – alles im Grunde nur eine Illusion war, alles nur ein Traum. Ein Traum, den man in einem verschlossenen Raum gelebt hat, der Traum, dass man so etwas wie ein Mensch war. Und das man einfach loslassen kann.

So if I survive, then I'll see you tomorrow, yeah I'll see you tomorrow.
My legs are dangling off the edge,
The bottom of a bottle is my only friend,
I think I'll slit my wrists again and I'm gone, gone, gone, gone,
My legs are dangling off the edge,
A stomach full of pills didn't work again,
I'll put a bullet in my head and I'm gone, gone, gone, gone...


Ich schlug mit einem hässlichen und erstaunlich lauten, dumpfen Geräusch erst auf der Tischkante und dann auf dem Balkonboden auf und spürte, wie mir etwas warmes an der Schläfe entlang rann – aller Wahrscheinlichkeit nach Blut. Niels schrie mich an, in einem wirren Gemisch aus Dänisch und Deutsch, doch ich nahm ihn kaum richtig wahr. Ich schmeckte Blut im Mundwinkel, einen stechenden Schmerz in meinem Hinterkopf und dazu den immer selben Schmerz im Oberschenkel, während mir langsam das Bewusstsein entglitt. Ich wollte irgendetwas sagen, irgendwie auf Niels einwirken, doch meine Zuge gehorchte nicht mehr und mehr als ein Röcheln kam nicht zustande. Ich versuchte, den Arm zu heben, doch auch meine Schultermuskulatur hatte sich langsam verabschiedet und während Niels' Stimme in der Ferne immer leiser wurde, wurde mir Schwarz vor Augen. Das einzige, was ich nach wie vor hörte und was mit einer peinigenden Intensität an mein Innenohr drang, waren die Klänge des Radios – als würde mich die Welt noch einmal verspotten, und das in Form eines Sechsjährigen in einem Tonstudio.

I wish that I could fly,
way up in the sky,
Like a bird so high,
Oh I might just try.
I wish that I could fly,
way up in the sky,
Like a bird so high,
Oh I might just try,
Oh I might just try.