„Hey, was war da eigentlich gestern los?“ fragte mich Niels. Ich saß im Sitzsack auf meiner Terasse und genoss die Sonnenstrahlen des dänischen – naja, nenen wir es mal Sommers. Es war einen Tag nach dem letzten Spieltag, und noch immer lag ein Schleier voll Euphorie und Traum über der Stadt. Mein Posteingang und auch mein Whatsapp-Konto quollen über vor Glückwunschnachrichten – doch das sollte mir erstmal egal sein, ich hatte mir für die kommenden zwei Wochen Urlaub genommen.
„Was meinst du? Das mit dem Ball?“ fragte ich lachend.
„Das war bekloppt, das weißt du.“
„War es nicht. Das war bitter nötig.“
„Wie auch immer. Ich meine, dass du einfach gegangen bist. Du warst nichtmal bei der Pressekonferenz danach. Also, was war los?“
„Ich hatte da einfach keinen Bock drauf, verstehst du? Und mit wären da am Ende noch welche an die Gurgel gegangen, das wollte ich nicht unbedingt riskieren.“
„Du hättest noch 'ne Oxy schlucken sollen und das durchstehen, die Liga will dir-“
„...will mir eine Strafe aufbrummen. Irgendwas im unteren sechsstelligen Bereich, ich höre auch die Nachrichten.“
„Jedenfalls –“ fuhr Niels fort, ohne mich zu beachten „–wo wir gerade beim Thema Oxycodon sind:“
„Wie lange hast du nur an der Überleitung gefeilt?“ fragte ich und rollte mit den Augen.
„Du bist süchtig.“
„Bin ich nicht. Die Debatte hatten wir schonmal, oder?“
„Du BIST süchtig. Oxycodon ist sehr beliebt bei Leuten mit psychischen Schmerzen, weißt du?“
Ich wurde hellhörig. „Psychische Schmerzen?“ fragte ich und mimte den Unschuldigen.
„Ich bin Arzt, ich bin nicht dumm, also behandle mich nicht so. Du hast nach deiner OP Oxycodon genommen und dann etwa ein halbes Jahr lang langsam abgesetzt. Dann ist in deiner Krankenakte knapp zwei Jahre nichts von Oxy zu lesen, ehe du plötzlich wieder angefangen hast – mit der Maximaldosis. Also, was war da?“
„Nichts.“ sagte ich bestimmt.
„Na wie auch immer, verarschen kann ich mich auch alleine. Ich finde es schon raus...“ sagte Niels und drehte sich langsam um. Ich biss mir auf die Lippe und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
„Also gut, bleib hier.“ sagte ich mit erstickter Stimme. Niels drehte sich zu mir um und sah verwundert aus – mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet. Aber ich hatte mich entschlossen, ihm meine Geschichte zu erzählen – eine, von der außer mir außerhalbs Islands bisher wohl niemand etwas wusste. Da fällt mir auf, dass auch ihr sie nicht kennt – dann will ich mal erzählen.
„Also... Du hast sicher schon vermutet, dass ich nicht immer so war, wie ich es jetzt bin. Das liegt sicherlich am Oxycodon und am Bein, aber nicht nur. Du hast richtig gelesen, nach meiner Operation habe ich das Oxy langsam abgesetzt, weil mir meine Familie darüber hinweg geholfen hat. Nicht meine Eltern, sondern meine eigene Famile. Ich hatte selbst mal eine Frau, Kristín, und nachdem ich aus dem Krankenhaus kam, gab es eigentlich nichts besseres als sie für mich. Aber dann –“ mir blieb die Stimme weg und ich schloss für einen Moment die Augen. Dann redete ich weiter, gefühlte Ewigkeiten. Davon, wie wir nach meiner Verletzung nach Island zurückgezogen waren, wie wir dort unser eigenes Leben begonnen hatten – und schließlich erzählte ich unter Tränen, wie ich sie verloren hatte. Eines Abends, es war gerade erst dunkel geworden, war meine Frau nochmal alleine einkaufen gewesen. Ich weiß nicht, wie oft ich mir gewünscht habe, sie wäre nicht gegangen oder ich wäre mitgegangen oder tausend andere Dinge, aber es war zu spät Auf dem Weg nach Hause wurde sie von einem maskierten Mann bedroht und leistete Gegenwehr – und diese Gegenwehr musste sie mit dem Leben bezahlen. So jedenfalls schilderten es die Zeugen, so ging es aus dem Polizeibericht hervor und ich fragte mich immer wieder, was für ein Mensch das sein müsste, der für umgerechnet knapp 50€ einen Menschen umbringt. Ich spürte eine Hand an meiner Schulter, während ich nach Worten suchte. Niels saß neben mir. Ich weiß nicht, wie lange ich geredet hatte, ich weiß nicht, wie lange er schon hier saß – aber es tat gut, ihn an meiner Seite zu wissen. Wir saßen beide nur da, eine halbe Ewigkeit, ehe ich weiterredete. Davon, wie man mir damals sagen musste, dass man aufgrund der vagen Äußerungen den Mörder wohl nie fassen würde. Davon, wie ich es nicht geschafft hatte, zur Beerdigung zu gehen und davon, wie mein Bein wieder so sehr schmerzte, dass ich zum Oxycodon zurückgriff – vor ziemlich genau fünf Jahren.
„Deswegen warst du gestern so, oder? Das hatte nichts mit genervt sein zu tun, oder?“
„Ja...“ antwortete ich mit erstickter Stimme. „Gestern war ihr Todestag.“
Die Worte lagen zentnerschwer in der Luft und Niels schien nach den richtigen Worten zu suchen.
„Du fliegst nach Island.“ sagte er schließlich.
„Was? Nein, ich kann nicht-“ stammelte ich verwirrt zurück.
„Doch, du kannst. Es wird dir helfen und –“
„Sowas hilft nicht. Genauso wie es nicht hilft, darüber zu reden. Wir Menschen reden uns ein, dass es hilft, über seine schlimmen Momente zu reden – aber am Ende haben wir einander nur zum Weinen gebracht.“ antwortete ich.
„Doch, das hilft. Es sind genau fünf Jahre, es ist ein Zeitpunkt, um zu versuchen, damit abzuschließen.“
„Mit sowas kann man nicht abschließen.“
„Man kann es versuchen.“
„Sehe ich so aus, als würde ich es nicht versuchen?“ fragte ich und hob den Kopf.
Niels schwieg, wohl unsicher, ob er mit der Wahrheit rausrücken sollte. „Nein. Was ich sehe, ist jemand, der eine zweite Chance vom Leben bekommen hat und sich nicht sicher ist, ob er sie nutzen will. Aber das solltest du. Und wenn dich das jeden Tag quält, musst du da einfach nochmal hin. Sag den Geistern der Vergangenheit auf Wiedersehen. Und – über jemanden hinwegzukommen heißt sicher nicht, ihn zu vergessen. Du musst dir da keine Vorwürfe machen.“ sagte er schließlich. Ich war ihm dankbar dafür, dass er mir die Wahrheit sagte, auch wenn ich sie mir nicht eingestehen wollte. Er stand auf, klopfte mir nochmal auf die Schulter und ging wieder in Richtung des Zaunes.
„Niels?“ fragte ich leise.
„Ja?“
„Kannst du mitkommen?“ fragte ich ihn. Es fiel mir schwer es zuzugeben, aber ich wusste, ich würde ihn dort brauchen. „Ich bezahle das Ticket auch, aber – ich glaube nicht, dass ich das alleine schaffe.“ sagte ich. Niels blieb stehen und sah mich an.
„Natürlich. Keine Ursache.“ sagte er dann, ohne eine emotionale Regung. Er wusste, scheinbar selbst nicht, wie er reagieren sollte.
Kópavogur bei Nacht - ein unvertrautes und doch bekanntes Bild vor meinem inneren Auge
Ich wusste das sehr zu schätzen, auch wenn ich keine fünf Minuten später lauten Streit aus dem Nachbarhaus hörte. Niels schien seiner Angetrauten allem Anschein nach nur seine Reisepläne mitzuteilen und absolut nichts von meiner Vorgeschichte zu erzählen – wofür ich ihm mehr als Dankbar war. Ich saß noch einige Zeit draußen in der Dämmerung, ehe mich eine SMS aus meinen Gedanken Riss – „Morgen, 9:00 Abfahrt.“ war der Text, geschrieben von Niels.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht, aber immerhin war ich am nächsten morgen vollegtankt mit Kaffee hellwach. Die Fahrt zum Flughafen – dem Aarhus Lufthavn – dauerte circa eine Stunde, wir redeten unterwegs kein einziges Wort. Ich konnte es Niels aber ansehen, dass ich ihn in Gedanken beschäftigte und auch, dass er in der Nacht nicht allzu viel Schlaf gefunden hatte. Wir kamen pünktlich eine Stunde vor Abflug am Flughafen an und stellten den Wagen ab. Da wir beide nur ein Handgepäck dabeihatten, ging alles sehr schnell und auch der Flug selbst – mit Zwischenstopp in Kopenhagen – dauerte nur knappe fünf Stunden. Wir landeten um 14:00 Ortszeit – das entsprach 16:00 dänischer Zeit – und ich betrat angespannt und mit einer tief sitzenden, inneren Unruhe das erste Mal seit fast Fünf Jahren wieder isländischen Boden.
Ich hatte keinen richtigen Plan im Kopf, was ich als nächstes tun sollte – und Niels, der wohl nichts anderes erwartet hatte, übernahm wie selbstverständlich das Kommando. Er buchte uns ein Zweibettzimmer im Flughafenhotel für eine Nacht und hatte anscheinend auch für einen Mietwagen gesorgt, einen alten und etwas verbeult aussehenden Toyota. Wir stiegen beide in voller Montur in das Auto ein und warfen fast synchron unsere Taschen auf den Rücksitz. Als Niels keine Anstalten machte loszufahren, drehte ich den Kopf und sah den fragenden Gesichtsausdruck. „Hólavallagarður, Reykjavík“ sagte ich dumpf und hackte die Addresse in das im Auto hängende Navigationssystem. Die kommende Dreiviertelstunde zwischen dem Flughafen Keflavik und Reykjavik verging wie im Flug, und bald parkte Niels den nach billigem Herrenparfum riechenden Toyota auf einem kleinen Parkplatz im Herzen des Reykjaviker Vorortes Kópavogur. Ich sah aus dem Fenster und erkannte einen kleinen Laden, dahinter erstreckte sich ein von hohen, massiven Steinmauern umrahmtes Stück Lichtung. Ich hatte seit meinem Einsteigen ins Auto außer der Addresse kein Wort gesagt, und auch Niels hatte zumindest zu mir nichts gesagt – bis jetzt.
„Meinst du, du schaffst es?“ fragte er mich.
Ich nickte nur stumm und stieg aus. Ich humpelte auf den kleinen Laden zu und ohne die Begrüßung der pummeligen Verkäuferin wahrzunehmen oder gar zu erwiedern, griff ich eine dunkelrote Rose aus einer Blumenvase, legte einen 1000-Kronen-Schein auf den Tresen und humpelte durch die zweite Tür. Ich ignorierte den sorgenvollen Blick und humpelte den staubigen Weg entlang. Ich war erst einmal hier gewesen, doch den Weg würde ich wohl in einer Million Jahren nicht vergessen. Tausend Gedanken rasten mir durch den Kopf, während ich den Weg entlangging, und dennoch war mein Kopf eigentlich komplett leer. Dann war ich da, Auge in Auge mit dem Grabstein meiner Frau, eine Rose in der Hand und ich war das erste Mal in meinem Leben wirklich ratlos. Ich stand da, ich wusste nicht was ich tun sollte und was ich überhaupt hier wollte. Doch dann fing ich einfach an zu reden, ich redete und redete und erzählte diesem Stein alles, was ich in den letzten fünf Jahren erlebt hatte – vom Trainerschein, RB Leipzig, meinem Rauswurf dort, meinem Umzug nach Hobro, meinem Erfolg dort, von Niels, seiner Familie und schweren Herzens auch von Amanda. Ich weiß, es klingt dämlich und eigentlich ist es das auch, aber obwohl dieser Ort hier genauso wenig dazu befähigte mit Toten zu reden wie irgendein anderer Ort, fühlte ich mich meiner Frau auf seltsame und abstrakte Weise wieder verbunden. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und redete und redete, aber es musste lange gewesen sein – als ich aufhörte, spürte ich schon die ersten Finger der Dämmerung nach mir greifen und ich spürte auch, dass mich zwei Augenpaare beobachteten – die besorgte Verkäuferin und Niels, der wohl ausgestiegen und in den Laden gegangen war, um nach mir zu sehen und sicherzugehen, dass es mir gut ging. Ich stand noch eine Weile da – den Gehstock in der einen Hand, die Rose in der anderen – ohne ein Wort zu sagen oder etwas zu machen. Doch mein Gefühl sagte mir, dass es an der Zeit war, Abschied zu nehmen. Ich schluckte und machte zwei Schritte nach vorne auf das Grab. Ich ging in die Hocke, legte die Rose vor den Grabstein und presste meine Lippen auf das kalte und raue Gestein, während mir Tränen in die Augen stiegen. „Du fehlst mir so unglaublich.“ sagte ich mit zitternder Stimme, harrte noch ein paar Sekunden aus und stand dann auf.

Ich drehte mich um, und ohne ein Wort zu sagen, ging ich an der Frau und an Niels vorbei zum Auto. Ich stieg ein und sofort schlug mir wieder diese Duftwolke entgegen, die sich einfach nicht verflüchtigen wollte. Niels stieg auf der Fahrerseite ein und setzte sich hinters Steuer, auch er sagte kein Wort.
„Danke.“ sagte ich schließlich.
„Dafür nicht.“ erwiederte Niels und startete den Motor.
Die Fahrt zurück zum Flughafenhotel wurde dann für mich so etwas wie der Weg zurück in die Realität und Gegenwart, und ich begann mit Niels wieder normal zu reden. Auch beim Abendessen in einem Hafenrestaurant verloren wir kein Wort mehr über die Sache, stattdessen lästerten wir gemeinsam über die vor dem Fenster auf und ab gehenden bauchigen Männer in Arbeitskleidung und ich erzählte Niels von meinem zweiten Abenteuer mit Amanda. Ich sah es Niels zwar an, dass er sich nach wie vor Sorgen machte, aber er schien zu respektieren, dass ich nicht mehr darüber reden wollte. Wir gingen relativ früh zu Bett, und standen auch früh wieder auf. Am nächsten Morgen wurde mir beim Frühstücken im Flughafenrestaurant bewusst, dass ich noch gar nicht wusste, was ich in Zukunft mit meiner Karriere machen wollte. Mein Vertrag bei Hobro lief aus, und ich hatte keinen Schimmer, wie es in Zukunft mit Jens Hammer Sørensen aussehen sollte – gerade das letzte Wochenende dürfte meine Position bei ihm nicht gerade gestärkt haben. Ansonsten müsste ich mich erneut nach einem Job bemühen, oder – und das war eine für mich eher neue Option – ich würde in Island etwas versuchen, vielleicht sogar bei Breidablík. Auch Niels schien nicht entgangen zu sein, dass mich etwas beschäftigte.
„Worüber denkst du nach?“ fragte er mich, nachdem er sein Stück Rührei runtergeschluckt hatte.
Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und ließ den Blick aus dem Fenster über die Häuser der Stadt schweifen. „Über Fußball.“ sagte ich schließlich vielsagend, doch Niels schien zu verstehen.
„Weißt du schon, was du in Zukunft machen willst?“ vertiefte er seine Frage.
„Nein.“ antwortete ich. „Ich habe absolut keine Ahnung.“

Quellen: Kópavogur, Grabstein, Reykjvik |
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