Hey Sigurður, Willst du nicht heute Abend zu uns rüberkommen?“ fragte mich Niels.
Was?“ fragte ich verduzt. Ich stand im Türrahmen zum Garten und sah auf den Schneeüberzogenen Rasen – pünktlich zu Heiligabend hatte es mit der weißen Pracht angefangen.
Ich fragte, ob du heute Abend zu uns rüberkommen willst. Zum Abendessen.
Zum Weihnachtsessen?
Naja, heute ist Weihnachten und wenn man das so eng sieht, ja zum Weihnachtsessen.
Du weißt aber schon noch, dass ich kein Christ bin?
Na und? Dann eben nur zum Abendessen, du isst was und bist mal unter Leuten.
Ich werde sicherlich nicht in einer religiösen Familie am zweitgrößten christlichen Feiertag zum Essen auftauchen!
Am zweitgrößten?
Wie wenig ihr nur über eure eigene Religion wisst. In christlicher Tradition ist der größte Feiertag die Auferstehung und Himmelfahrt, nicht die Geburt Jesus. Die Geburt wird nur mehr kommerzialisiert.
Ist ja auch egal. Es ist Weihnachten, eine Ausrede um mal glücklich zu sein. Das brauchen wir alle irgendwann.
Wirklich? Du kommst mir mit sowas?“ fragte ich ehrlich überrascht.
Hey, du bist abhängig von Oxycodon. Das ist quasi medizinisches Heroin, wer im Leben glücklich ist tut das nicht.
Ich bin nicht süchtig!“ So langsam machte mich der Dialog hier wütend.
Natürlich bist du das!
Nein. Es ist nicht das Oxy, es ist das Bein was mir sagt und was nicht. Weißt du was, vielleicht komem ich zum Essen, damit du endlich die Klappe hältst.
Du meinst du weißt, dass ich recht habe?
Ich meine, ich komme. Aber bitte, tu mir einen Gefallen und -
Ja, ist gut. Wir haben keine Geschenke für dich, und wir wollen keine von dir. Du kommst zu uns, du isst was, und vielleicht singst du ein oder zwei Weihnachtslieder mit. Und dann gehst du wieder, keine Sorge. Also?
Bis nachher.
Niels ging wieder und ich ebenfalls, jeder in sein Wohnzimmer. Ich hatte schon damit gerechnet zu Weihnachten von Niels eingeladen zu werden, vermutlich hatte er nur deswegen so spät gefragt, um zu verhindern dass ich noch absage. Niels hatte Recht, ich hasste dieses ganze Geschenke-Getue. Ersteinmal hatte ich alles was ich brauchte und wenn ich Geschenke bekommen würde, müsste ich so tun als würde ich mich über Dinge freuen, über die ich mich nicht freute, nur um nicht unhöflich zu sein – ganz davon abgesehen, dass ich selber irgendwelchen Schrott für andere einkaufen müsste und darauf hatte ich nun wahrlich keine Lust. Ich sah nochmal nach draußen auf den schneebedeckten Rasen und stellte mir kurz vor, wie es wohl wäre, selber hier ein Weihnachtsessen auszurichten für eine eigene Familie – aber ich verwarf den Gedanken schnell wieder.





Ich entschloss, zum Abendesssen bei den Madsens in angemessener Bekleidung zu erscheinen – in Hemd und Anzug, und zwar in einem teuren. Zur Arbeit und auch zu den Spielen trug ich meist die günstigen, zwar nicht Stangenware aber trotzdem nur im dreistelligen Bereich pro Stück. Heute zog ich einen meiner besten Anzüge mit Hemd an – Navyblau, maßgeschneidert und preislich im fünfstelligen Bereich. Ich bekam nicht oft Gelegenheit ihn zu tragen, doch ich hatte mir als vielleicht doch ein kleines Weihnachtsgeschenk vorgenommen, einen wirklich guten Eindruck zu hinterlassen und dazu gehörte nicht nur mich zu benehmen, sondern auch mich dem Anlass entsprechend zu kleiden – abgesehen davon, dass der Anzug einfach der Hammer war und ich dringend eine Gelegenheit brauchte, ihn mal wieder anzuziehen.
Das Weihnachtessen bei Niels und seiner Frau kam schneller als gedacht, wir aßen wegen der früh hereinbrechenden Dunkelheit recht früh und ich musste zugeben, dass man mir nicht zu viel versprochen hatte. Niels verlor kein Wort über die Oxycodon-Diskussion mit mir und wenn ich den riesigen Haufen an zerrupftem Geschenkpapier im Mülleimer richtig deutete, hatten sie das Auspacken der Geschenke vor das Essen und damit dankbarerweise vor meinen Besuch gelegt. Auch das Essen war eine durchaus freudige Überraschung: In Dänemark war meines Wissens nach wie in vielen anderen Skandinavischen Ländern Hering das übliche Weihnachtsessen, anders als in Deutschland, wo meist Ente aufgetischt wurde. Als Fisch-Antipath hatte ich diesen Brauch übernommen und war zugegebenermaßen freudig überrascht davon, dass auch hier zum Abendessen eine mit Bratäpfeln gefüllte Ente serviert wurde.
Esst ihr jedes Jahr zu Weihnachten Ente?
Ja, schon immer. Du weißt ja, Nele hat nach in Camebridge studiert, und da in England ist das so üblich – und weil wir beide keine großen Fischfans sind, gibt es bei uns auch Ente zu Weihnachten.“ Dass Nele in Camebridge studiert hatte, wusste ich keineswegs, aber es passte irgendwie. Teuer, rennomiert und am Ende ein eigentlich nutzloser und doch klangvoller Titel, das Abschlusszeugnis von einer der besten Universitäten Europas.
Find' ich gut. Und – wenn ihr mir das gestattet – die Ente riecht schonmal ausgezeichnet!“ sagte ich. Nele nickte mir lächelnd zurück und ging in die Küche, um Klöße zu holen.
Ok, sags mir – was stimmt nicht?“ fragte mich Niels flüsternd.
Was meinst du?
Das hier. Du bist höflich, und zwar sehr höflich, du hast seit du hier bist keinen blöden Spruch gemacht und der Anzug sieht teurer aus als unser Wohnzimmer.
Ich kleide mich gerne gut – und hey, es ist nur ein Essen, ich kann auch mal nett sein.
Du kannst, du bist es nur eigentlich nie. Und „nur“ war noch nie etwas, was mit dir zu tun hatte.
Ich wollte gerade antworten, doch Nele kam in diesem Moment wieder ins Zimmer und Niels' Blick sagte klar, dass er sie nicht an seinem Misstrauen teilhaben lassen wollte. Nele stellte die Klöße hin, nahm ihr Weinglas und machte sich bereit, einen Toast auszusprechen. Niels sah sie kurz an und schien ihr klarmachen zu wollen, dass sie sich mir zu liebe besser kurz fassen sollte – was sie dann auch tat. „Ich mache es kurz – es freut mich, dass wir einen etten Nachbarn haben, der heute hier ist und es freut mich auch ungemein, dass meine – unsere – Tochter heute brav früh ins Bett gegangen ist und sie deswegen morgen nicht quengelig sein wird, wenn wir zu meinen Eltern fahren. In diesem Sinne: Frohes Fest und guten Apetit.
Ich hob ebenfalls mein Glas und prostete ihr zu, ehe wir dann zu dritt auf den Abend anstießen.
Der Wein ist gut.“ sagte ich.
Wirklich? Der hat keine 5€ gekostet, mach dich bitte nicht lächerlich.“ sagte Niels – meine Nettigkeit schien ihn zu reizen und Nele warf ihm einen kurzen, giftigen Blick zu.
Hey hey hey... Ich erkenne billige Anzüge am Gefühl, und billigen Scotch am Geschmack – billigen Wein erkenne ich höchstens am Preis, ich bin einfach kein großer Weintrinker.
Jedenfalls Danke.“ fuhr Nele dazwischen, als Niels den Mund aufmachte.
Der Rest des Weihnachtsessens verlief dann durchaus unterhaltsam, auch wenn mich der Wein etwas schläfrig machte – eine Kreuzreaktion von Oxycodon und Alkohol, an die ich mich aber mittlerweile gewöhnt hatte. Wir redeten über Banalitäten, oder vielmehr redeten Nele und Niels und ich hörte zu und nickte und lächelte dann und wann, während ich über den ganzen Tisch hören konnte, wie Niels sich den Kopf darüber zermarterte, warum ich so übertrieben höflich und freundlich war.



Ente - ein ausgezeichnetes Weihnachtsessen


Doch erst als wir schon mehrere Stunden dasaßen und Nele anfing abzuräumen – und ich mich auf den Weg machen wollte – sprach er mich darauf an.
Ok, sag es mir – was ist hier wirklich los?
Was meinst du?“ gab ich betont freundlich zurück.
Deine kleine Scharade hier, was willst du damit erreichen? Ich komm' einfach nicht dahinter.
Na gut.“ sagte ich, ich hatte ihn lange genug auf die Folter gespannt. „Ich weiß, dass deine Frau nicht gerade mein größter Fan ist und dass du mich hier eingeladen hast, sicher nicht sie. Aber so habt ihr deshalb keinen Zoff.
Wirklich? Das hast du für mich getan?“ Niels klappte die Kinnlade etwas herunter.
Sieh es als mein Weihnachtsgeschenk an dich.
Und du hast mir nichts gesagt, weil-
Das war mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst.“ sagte ich lachend. „Frohe Weihnachten noch und – viel Spaß morgen bei den Schwiegereltern.“ ergänzte ich im herausgehen.
Frohe Weihnachten, Sigurður.





Quellen: Schnee, Ente