WM 2010 - Kommentar: Ballack, Leader a.D.
Eurosport - Mo 05.Jul. 13:56:00 2010
Ein Prinz hat den König entthront. Kevin-Prince Boateng hat mit seiner eingesprungenen Körperverletzung gegen Michael Ballack im vergangenen FA-Cup-Finale für eine, nein, für die Wachablösung in der deutschen Nationalmannschaft gesorgt. Ein Kommentar von Eurosport-Redakteur Michael Wollny.
Menschlich betrachtet ist die ganze Sache zweifellos tragisch. Doch sportlich gesehen, müsste diese folgenschwere Entthronisierug endgültig sein.
Michael Ballack, 33-jähriger
WM-Tourist wider Willen, ist Vergangenheit. Vergangenheit in einer mitreißenden Schicksalsgemeinschaft, die in der Gegenwart ungeahnte Erfolge feiert, obwohl ihr doch eigentlich erst die Zukunft gehören soll.
Die Sechs ist besetzt
Bastian Schweinsteiger, so hatte Joachim Löw vor dem Duell gegen
England noch erklärt, sei das "Herz" der Mannschaft, ein Kilometer fressender Mittelfeldmotor. Antreiber, Pass- und Taktgeber - auf dem Platz das finale Glied in der Befehlskette. Schweinsteiger ist mit seinen 25 Jahren beinahe zur Weltklasse gereift, ist der Boss auf dem Platz und steht damit keineswegs in Konkurrenz zum Binde tragenden Chef-Diplomaten Philipp Lahm.
Schweinsteiger hat Ballack längst überlebt. Doch auf der doppelt besetzten Halbposition im 4-2-3-1 ist auch der zweite Platz vergeben. Es wäre ein Affront gegenüber Sami Khedira, sollte der Neu-Leverkusener für den 23-jährigen Stuttgarter zurück ins Team rotieren. Khedira absolviert eine hervorragende WM, hat sich als Schweinsteigers Sozius absolut bewährt und passt sowieso besser in den generalstabsmäßigen Masterplan des Bundestrainers, nonchalantes Talent zu einer perspektivischen Erfolgseinheit zu modellieren.
Der Argumente nicht genug, wird Michael Ballack in Leverkusen durch Simon Rolfes fortan zusätzlich mit der Zukunft konfrontiert. Allein das Argument, dass Thomas Müller Ballacks 13 belegt, verfängt. Ansonsten aber spricht vieles gegen eine Rückkehr des amtierenden Kapitäns.
Ballacks Spiel ist zu statisch
Das Spiel der deutschen Mannschaft ist schnell, ideal für die wendigen Schweinsteiger und Khedira, zu schnell für Ballacks Trab. Es ist laufintensiv, mit zahlreichen Positionswechseln. Khedira taucht bei Absicherung in der Spitze auf, Schweinsteiger bekommt im Gegenzug die gleichen Freiheiten und operiert zudem auch gerne über die Außen. Ballack ist dagegen aufs Zentrum geeicht.
Und auch die Hierarchie wurde modernem Stil entsprechend geerdet. Sie ist jetzt flach, nimmt alle Führungsspieler gleichermaßen in die Verantwortung, schafft Nähe untereinander und versiegelt die Schweißnähte zwischen starken Individualisten zum noch stärkeren Kollektiv. Kasernen-Ton, autokratisches Verhalten, "L'état c'est moi!" - alles Vergangenheit. Auch hier hat sich die Mannschaft - und das ist keineswegs boshaft gemeint - von der Ära Ballack emanzipiert. Eine unausweichliche Entwicklung, in ihrer Geschwindigkeit aber höchst beachtlich.
Dieses prompte Zünden der nächsten Stufe war ebenso wenig vorhersehbar wie der synergetische Effekt, der das deutsche Team über England und
Argentinien ins Halbfinale und zurück in die Weltelite führte. Der Ausfall Ballacks kam vor der WM einer Staatskrise gleich, auch wir Journalisten fanden die Vorstellung des hoffnungslosen Untergangs am Kap der Guten Hoffnung nicht ganz abwegig. Eine Havarie, bei der kein Kapitän als Letzter von Bord gehen konnte, weil erst gar kein Kapitän an Bord gewesen war.
Kollektive Weltklasse
Es kam alles anders. Alles kam viel besser. Hierarchisch und mit Blick auf die Spielweise ist
Deutschland kein schwerfälliger Dampfer mehr, auf dem ein Kapitän die Matrosen das Deck schrubben lässt. Das Team gleicht eher einem Segelschiff, bei dem jeder seine spezielle Aufgabe hat, alle gefordert sind, alle an einem Strang ziehen müssen, um Segel zu setzen und auch mal gegen scharfen Wind zu steuern - und wo alle das Deck schrubben...
Deutschland ist wieder Weltspitze. Ohne Ballacks Weltklasse. Das junge deutsche Kollektiv ist weltklasse ohne dieses Prädikat im individuellen Bereich ausweisen zu können, obwohl Bastian Schweinsteiger dieser Vorstellung schon außerordentlich nahe kommt. Maradona führte Argentinien 1986 beinahe alleine zum Titel. Nun scheidet mit Lionel Messi sein, Zitat, "persönlicher Maradona" aus.
Auch bei
Portugal,
Brasilien, England und
Frankreich blieb individuelle Weltklasse auf der Strecke, weil sie eben nicht auch als Einheit vorhanden war. Deutschland setzt hier nun ein echtes Ausrufezeichen und befindet sich damit auf ideologischer Augenhöhe mit Halbfinal-Gegner
Spanien. Sollte hier Schluss sein, ist das nur eine erste Rast auf einem langen Weg.
Im Rückraum der Zukunft
2012 markiert auf diesem Weg den nächsten Meilenstein. Und deshalb wäre eine Rückkehr Ballacks in die Startformation ein fatales Signal. Der Spieler wäre dann 35 und hätte über zwei lange Jahre in der Vorbereitung einem reifenden Perspektivspieler eben jene Perspektive verstellt. Doch es besteht absolut keine Notwendigkeit für diesen Rückschritt. Löw weiß das. Er kann und wird es sich nicht leisten wollen, dem noch amtierenden Kapitän zum Karriere-Herbst ein letztes Großturnier zu schenken. Dafür ist dieser Bundestrainer - so er denn im Amt bleibt - zu pragmatisch und erfolgsorientiert.
Ballacks Verdienste um die DFB-Elf sind unvergessen, seine Meriten aber kein Stammplatz-Argument. Die Nibelungentreue zu einem kriselnden Stürmer wie Miroslav Klose konnte sich Löw leisten. Hätte sie sich nicht ausbezahlt, hätte er schnell von der Bank weg handeln können. Im Sturm geht das. Im neuralgischen Mittelfeld wäre es hingegen erfolgsgefährdend. Deshalb wird Löw handeln.
Ein Rücktritt von Michael Ballack ist dabei nicht auszuschließen. Doch eventuell bleibt er mit seiner Erfahrung ja auch im Rückraum der Zukunft. Ein "Capitano a.D.", auf Standby 2012.
Ein Kommentar von Michael Wollny / Eurosport
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