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Denn sie wissen nicht, was sie tun
In vier der letzten sechs Jahre entließ Tottenham Hotspur im Herbst seinen Trainer. Im September 2003 musste Glenn Hoddle gehen, im November 2004 Jacques Santini, im Oktober 2007 Martin Jol und jetzt gerade Juande Ramos. So wie Julius Cäsar die Iden des März fürchtete, sollte sich Harry Redknapp wohl vor dem kommenden Oktober hüten, wenn ihm sein Auskommen lieb ist.
Redknapp ist der neue Mann an der White Hart Lane - ein englischer Trainer alter Schule, dessen Sohn Jamie einst für die Spurs spielte. Redknapp wurde - auch das eine Spurs-Tradition - seinem bisherigen Club Portsmouth einfach mitten in der Saison weggekauft. Genauso lief es 2007 mit Ramos, genauso kam Glenn Hoddle 2001 aus Southampton nach London, und so wurde zuvor auch George Graham aus Leeds einfach mit höherem Gehalt wegverpflichtet.
Der Erfolg dieser Personalpolitik spiegelt sich in den Titeln wider, die Tottenham in den letzten 17 Jahren errungen hat: zwei Ligapokale. Für einen der 15 reichsten Clubs der Welt und einen der traditionsreichsten und populärsten im Mutterland des Fußballs ist das nicht viel. Der Gegensatz zum Erzrivalen Arsenal könnte nicht größer sein: Redknapp ist der neunte Trainer der Spurs, seit Arsène Wenger den gleichen Job beim Nachbarn übernommen hat. Kein Wunder, dass englische Journalisten wie Sid Lowe (Guardian, World Soccer) den Spurs-Präsidenten Daniel Levy schon in einem Atemzug mit Atléticos berüchtigtem Trainerkiller Jesus Gil y Gil nennen.
Was aber läuft immer schief bei Tottenham? Wir haben die abgelaufenen zwölf Monate analysiert und nennen die Hauptfaktoren.
1. Ausverkauf des Sturms
Am Ende des Jahres 2007 hatte Tottenham in der Hinrunde der Premier League 41 Tore erzielt. Das war mehr als jedes andere Team der Liga, und in den großen fünf europäischen Ligen hatte nur Werder Bremen zu diesem Zeitpunkt einen Treffer mehr erzielt. Zu behaupten, dass die Spurs damals eine der besten Offensiven Europas hatten, ist also keineswegs eine Übertreibung.
Umso unfassbarer aber, dass innerhalb der folgenden acht Monate alle drei Stürmer aus dieser hochkarätigen Angriffsformation verkauft wurden: Dimitar Berbatov nach Manchester, Robbie Keane nach Liverpool und Jermain Defoe nach Portsmouth. Nun wollten Keane und Berbatov zugegebenermaßen unbedingt wechseln, der Club versuchte, sie zu halten. Gutes Club-Management aber zeigt sich gerade darin, wie gut man mit solchen Situationen umgehen und wie man solche Abgänge kompensieren kann.
Zu Zeiten von Keane, Berbatov und Defoe hatte Tottenham eine höchstens durchschnittliche Defensive, die durch einen überragenden Angriff kompensiert wurde - vergleichbar etwa mit der Barcelona-Mannschaft von 2006, die mit einer solchen Schräglage sogar die Champions League gewann. Hätte Barca dann auf einen Schlag Messi, Eto'o und Ronaldinho verkauft, wäre ein Einbruch die logische Konsequenz gewesen - wenn auch vielleicht nicht so dramatisch wie in der aktuellen Spurs-Situation, in der die Londoner den schlechtesten Saisonstart ihrer 125-jährigen Geschichte erlebten.
2. Die sogenannte Kontinentale Struktur
Anders als in England üblich, hatte sich das Spurs-Präsidium um Levy vor einigen Jahren in den Kopf gesetzt, eine an kontinentaleuropäischen Gepflogenheiten orientierte Hierarchie im Club zu etablieren. Der Trainer sollte primär für Training und Mannschaftsaufstellung zuständig sein, die Transfers aber von einem Sportdirektor verantwortet werden.
Als Problem dieser Umstellung erwies sich, dass die ganze Personalpolitik des Clubs nur so gut sein konnte wie die Kompetenz des Sportdirektors. Der 2004 auf dieser Position installierte Frank Arnesen machte einen herausragenden Job und verpflichtete neben dem französischen Nationaltrainer Jacques Santini mit Martin Jol gleich noch einen fast schon überqualifizierten Co-Trainer, der Santini bald ersetzte. Die guten Kontakte des langjährigen PSV-Eindhoven-Managers brachten exzellente Transfers an die White Hart Lane. Auf einmal war Tottenham von einer Mittelfeldmannschaft zu einem Anwärter auf die Champions League-Ränge geworden.
Das blieb allerdings auch Roman Abramovich nicht verborgen. Der Chelsea-Mogul lockte Arnesen, der seit 2005 als Jugendscout der Blues doppelt so viel verdient wie zuvor als Sportdirektor der Spurs. Sein Nachfolger wurde der Franzose Damien Comolli, der zuvor für Arsenal und AS Saint-Etienne gearbeitet hatte, allerdings in einer weitaus begrenzteren Funktion. Fortan hatten Comolli und Levy das Sagen in Sachen Tottenham-Transfers. Spieler, die der jeweilige Trainer gar nicht haben wollte, wurden verpflichtet, wie Kevin-Prince Boateng von Hertha BSC, mit dem Martin Jol dem Vernehmen nach gar nichts anfangen konnte.
Verglichen mit dem spektakulären Auge für Talente, das Arsène Wenger bei Arsenal an den Tag legte, springen die Fehleinschätzungen Comollis umso deutlicher ins Auge. Sei es Stürmer Darren Bent, für dessen Transfer Tottenham an Charlton Athletic mehr Geld überwies als Barcelona für Thierry Henry, oder der französische U21-Nationalspieler Younes Kaboul, für den die Premier League um die gleiche Kragenweite zu groß war wie für Boateng.
Mit dem Rausschmiss von Ramos wurde jetzt auch Comolli entlassen, und die Spurs kehren wieder zu einem klassisch britischen Modell zurück - zumindest bis zur nächsten Krise.
3. Michael Carrick
Es ist leicht, die zentrale Bedeutung zu unterschätzen, die Michael Carrick für die Tottenham-Mannschaft von 2004 bis 2006 hatte. Dabei lag es nicht zuletzt an ihm, dass die Spurs 2006 fast die ganze Spielzeit auf einem Champions League-Platz verbrachten und erst am letzten Spieltag auf Rang fünf zurückfielen, nachdem eine vergiftete Lasagne die Hälfte des Kaders geschwächt hatte.
Im gleichen Sommer wechselte Carrick für 27 Millionen Euro zu Manchester United. Auch, wenn im Gegenzug Dimitar Berbatov aus Leverkusen kam, hatte die Spurs-Elf der Folgesaison nicht mehr die gleiche spielerische Klasse und vermochte Matches nicht mehr so zu dominieren wie zuvor. Zwar wurde Tottenham wieder Fünfter, hatte aber nie mehr eine echte Chance auf die Teilnahme an der Königsklasse. Der Abstand zu den großen Vier, der sich für eine Saison fast in Luft aufgelöst hatte, war wieder angewachsen.
Im Spurs-Mittelfeld hatte Carrick eine offensivere und kreativere Rolle gespielt als jetzt bei Manchester United. Tödliche Pässe, großes Laufpensum, intelligente Tempowechsel und entscheidende Balleroberungen vereinten sich zu einem kompletten Allroundmittelfeldspieler, dem in Jermaine Jenas ein ähnlich vielseitiger Profi zur Seite stand. Carricks Nachfolger Didier Zokora, von den Anlagen her Carrick gar nicht so unähnlich, zeigt in der Premier League zu selten die Matchwinner-Qualitäten, die ihn in der Nationalelf der Elfenbeinküste oft auszeichnen.
4. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung
Vor einem Jahr reichten schon zwei Niederlagen zum Saisonstart aus, um Martin Jol in den Augen des Präsidiums so sehr in Frage zu stellen, dass die Bosse sich heimlich mit Juande Ramos trafen, um über eine Nachfolge zu verhandeln. Gut möglich, dass Jol, der zweimal in Folge Fünfter geworden war, eine weitere gute Saison hingelegt hätte - aber nachdem öffentlich geworden war, dass sein Nachfolger schon in den Startlöchern stand, war seine Position praktisch unhaltbar geworden.
In dieser Saison gingen die Spurs mit einer makellosen Saisonvorbereitung in die neue Premier League-Spielzeit. Ungeschlagen und mit beeindruckenden Siegen gegen AS Roma (5:0) und Borussia Dortmund (3:0) im Rücken, gingen dann aber die ersten beiden Pflichtspiele gegen Middlesbrough und Sunderland verloren. Schon in diesen ersten beiden Spielen scheint sich die Stimmung im Team leicht gegen Ramos gewendet zu haben. Anders ist nicht zu erklären, dass eine Mannschaft, die bei allen Abgängen immerhin mit Stars wie Luka Modric, Giovani dos Santos, David Bentley und Roman Pavlyuchenko verstärkt worden war, so sang- und klanglos ein Spiel nach dem anderen abschenkte.
Denn alle zuvor angesprochenen Faktoren erklären, warum Tottenham nicht so erfolgreich war, wie es sich Fans und Funktionäre erhofft hatten. Sie erklären aber nicht, wie der vierzehntreichste Club der Welt nach acht Spieltagen mit zwei Punkten auf Platz 20 der Tabelle rangierte - eine Lage, aus der heraus in der Geschichte der Premier League erst ein einziges Mal eine Mannschaft noch den Klassenerhalt geschafft hat.
Mit Harry Redknapp ist nun ein Trainer an der White Hart Lane, der für vieles steht - aber nicht für die großen Ziele, die die Spurs in den letzten Jahren ausgegeben haben. Für die weitere Zukunft erscheinen zwei Szenarien denkbar: Entweder es geht nun entsprechend der Leistungsstärke des Kaders steil bergauf, und die Saison wird im sicheren Mittelfeld beendet, vielleicht springt noch ein Erfolg in einem der Pokalwettbewerbe heraus. Oder die desolate Politik des Clubs fordert schließlich sportlich und finanziell ihren Tribut, und Tottenham erlebt das Jahr 2012 in der dritten Liga, wie Leeds United. Nur eines erscheint sicher: Bis dahin wird es den einen oder anderen Trainerwechsel gegeben haben.
Quelle: sportal.de
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