Die Tage waren seit der E-Mail-Korrispondenz mit Hasan Ismaik schnell vergangen und der 24.12. kam schnell – was mich nicht störte, denn immerhin wurde dadurch die Weihnachtsdekoration und all dieser andere Bullshit demnächst endlich weniger. Außerdem freute ich mich natürlich auch auf das „Vorstellungsgespräch“ in München und brannte darauf, endlich meinen neuen Posten anzutreten – doch die Anreise war weitaus weniger erfreulich. Mein Auto musste zur Reparatur und auch wenn mir mein Boss in Spé eine Limousine zum Hauptbahnhof schickte, musste ich doch von Leipzig bis München mit der deutschen Bahn fahren – wie irgend so ein Obdachloser. Doch ich konnte so während der Fahrt immerhin ein wenig über meinen neuen Verein recherchieren – denn besonders interessiert hatte mich die Vereinsgeschichte irgendwelcher Vereine eigentlich nie, aber ich wollte bei meinem ersten Gespräch vor Ort nicht in die Situation kommen, irgendwelche Peinlichen Wissenslücken zu offenbaren. Der Turn- und Sportverein München von 1860 e.V. wurde gegründet am 15.07.1848, die „1860“ im Namen kam von der Neugründung am 17.05.1860. Die Sparte Profifußball mitsamt der U21 und U19 ist in eine KGaA ausgegliedert, von deren 6,5mio Aktien 3,9mio die Firma von Mäzen Ismaik hält und nur noch 2,6mio Aktien dem Verein gehören. Ich überflog die nächsten paar Zeilen des Wikipedia-Artikels, bis ich zur sportlichen Historie des Vereins gelangte. Nachdem man 1931 das erste Mal das Finale um die Deutsche Meisterschaft erreichte (und verlor), folgte während der NS-Zeit eine ziemlich düstere Phase. Der TSV galt neben dem SV Werder Bremen und dem VfB Stuttgart als eines der Aushängeschilde der NS-Ideologie und wurde so stark politisiert, konnte aber 1942 immerhin den ersten Pokalsieg feiern. Nach dem Krieg wurde der Verein dann in der Oberliga Süd zu einem der besten Vereine und konnte sich durch die Meisterschaft dort 1963 als Gründungsmitglied der Bundesliga empfehlen. In diese Phase fiel die erfolgreichste Zeit der Vereinsgeschichte: 1964 wurde man DFB-Pokalsieger und erreichte in der Folgesaison das Finale des Europapokals der Pokalsieger (und verlor abermals, es war also definitiv keine „Turniermannschaft“). 1966 wurde man dann zum ersten und bis heute einzigen Mal deutscher Meister, danach ging es jedoch schrittweise bergab und 1970 stieg man in die zweitklassige Regionalliga ab. Bis 1977 blieb man dort (auch nach Gründung der eingleisigen zweiten Liga) und entwickelte sich in der Folge zu einer Fahrstuhlmannschaft zwischen erster und zweiter Liga, was erst 1982 ein jähes Ende nahm: Der DFB entzog den Löwen die Lizenz und die Sechziger stiegen in die Bayernliga ab. Es dauerte eine Weile, sich zu konsolidieren, doch ab 1992 übernahm Werner Lorant das Zepter und führte die Münchener direkt aus der Bayern- in die Bundesliga. Die folgenden zehn Jahre waren nochmals eine sehr erfolgreiche Zeit mit mehreren Teilnahmen an internationalen Wettbewerben, doch 2004 stieg man abermals in die zweite Bundesliga ab. Seitdem war man immer wieder bemüht um den Wiederaufstieg, schaffte es aber nie und machte sich zudem mit internen Problemen in erschreckender Regelmäßigkeit zum Gespött der Medien. Die sportliche Talfahrt der letzten Jahre fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der letzten Saison, als man sich mit Ach und Krach in der Nachspielzeit in der Relegation gegen Holstein Kiel rettete. Ich musste schmunzeln – dieser Verein war definitiv der HSV der zweiten Liga. Ich scrollte ein bisschen weiter zu „Bekannten Ehemaligen Spielern“, um auch dort keinen bekannten Spieler zu verpassen – war dann aber doch wohl übervorsichtig gewesen. Bis heute war Rekordspieler der Löwen ein gewisser Manfred Wagner, der es auf insgesamt 364 Pflichtspiele brachte und Teil der Meistermannschaft war – gehört hatte ich den Namen noch nie. Auch die in der Anzahl an Pflichtspielen folgenden Spieler waren mir unbekannt: Fritz Sommer, Harald Cerny, Georg Metzger. Noch nie gehört, in einer Minute wieder vergessen. Auf bekanntere Namen stieß ich erst etwas weiter unten in der Liste: Gabor Kiraly, Benjamin Lauth, Daniel Bierofka – das waren Spieler, die mir durchaus etwas sagten und die alle immerhin über 175 Spiele absolviert hatten. Doch das wahre Aushängeschild des Vereins war wohl die Jugendarbeit. Ich recherchierte eine Weile und war erstaunt, wie viele Spieler aus dem Nachwuchs der Löwen stammten: Neben den beiden bekanntesten – den Bender-Zwillingen Lars und Sven – entsprangen auch weitere gestandene Bundesligaspieler der Löwenschule: Stefan Aigner, Christian Träsch, Fabian Johnson, Moritz Leitner, Philipp Hosiner, Timo Gebhart, Julian Baumgartlinger, Tobias Strobl und weitere. Doch auch die noch im Talentalter stehenden Spieler waren nicht zu verachten: Sebastian Maier, Stefan Wannenwetsch, Thomas Pledl, Bobby Wood, Julian Weigl und neben weiteren noch einer, der das Potential hatte, in die Sphären der beiden Benders vorzudringen: Hoffenheims Offensivjuwel Kevin Volland. Im aktuellen Profikader standen mit Vitus Eicher, Michael Netolitzky, Christopher Schindler, Maximilian Wittek, Dominik Stahl, Emanuel Taffertshofer, Richard Neudecker, Korbinian Vollmann und Marius Wolf zudem weitere neun „Eigengewächse“ – was eine für einen doch so weit oben spielendne Verein ziemlich beeindruckende Anzahl war, zumal mit Wittek, Wolf und Neudecker drei aktuelle Juniorennationalspieler darunter waren.
Mittlerweile hatte der Zug den Münchener Hauptbahnhof erreicht, die Zeit war also doch recht schnell verflogen und ich hatte mir ein wenig Wissen über den Verein anlesen können, das ich allerdings wohl nie brauchen und bald wieder vergessen würde. Ich stieg aus und sah mich kurz nach dem Ausgang um – ich hatte gelinde gesagt keine Ahnung, wo ich hin musste, aber da ich weder schweres Gepäck noch Zeitdruck noch Oxycodonknappheit hatte, war das kein Problem und nach einer Viertelstunde herumirren und dem schlechtesten Filterkaffee meines Lebens hatte ich endlich den Richtigen Ausgang gefunden, was mir schon im Herausgehen die schwarz schimmernde Limousine mit den verspiegelten Scheiben sagte, die wohl nicht näher am Ausgang hätte parken können. Ich humpelte mit meinem Rollkoffer im Schlepptau und der Aktentasche umgeworfen die Treppen herunter, als mir auch schon ein grimmig schauender Mann aus dem Auto entgegenkam.
„Ich nehme das für sie.“ sagte er mit einer tiefen Ruhe und Zufriedenheit in der Stimme – und einem unüberhörbaren südländischen Akzent. Ich nickte im höflich zu und übergab meinen Koffer, während ich mich mit der Aktentasche unter dem Arm zur Rückbank des Wagens orientierte. Das Auto sah auch von innen makellos aus, die Echtledersitze waren poliert, der Aschenbecher glänzte fast schon unnatürlich und die natürlich nur von außen verspiegelte und von innen angenehm abgedunkelte Fensterscheibe wies nicht den Hauch von Staub oder gar Fingerabdrücken auf. Hier wollte jemand ganz klar zeigen, dass er nicht nur das Geld hatte, um sich ein solches Auto für Besucher leisten zu können, sondern dass er auch wusste, wie er damit umzugehen hatte. Ich lehnte mich entspannt zurück, während der Fahrer meinen Koffer in den Kofferraum wuchtete und sich anschließend fast geräuschlos durch die Fahrertühr auf seinen Sitz setzte. Die folgende Fahrt durch die Münchener Innenstadt verlief Ereignislos, doch für die mit fünfeinhalb Kilometern sehr kurze Strecke brauchten wir aufgrund des immensen Verkehrs dennoch über eine halbe Stunde – Zeit geung für mich, um mir Gedanken darüber zu machen, was ich gleich wohl würde sagen müssen – und wie ich es würde sagen müssen. Mein Fahrer hatte derweil im Gegensatz zu erschreckend vielen anderen Taxi- oder Limousinenfahrern nicht die nervtötende Angewohnheit, Smalltalk führen zu müssen und so schaffte ich es tatsächlich, mich so tief in meinen Gedankenpalast zu versetzen, dass ich es nicht mitbekam, als wir anhielten.
„Sir?“ fragte der Fahrer, nachdem wir sicherlich schon einige Minuten standen.
„Ja?!“ schreckte ich hoch.
„Wir sind da. Sie können Aussteigen, oder benötigen sie Hilfe?“ fragte er und ich spürte, wie sein Blick im Innenspiegel über mein lädiertes Bein fuhr.
„Danke, Nein. Ich komme zurecht.“ sagte ich und öffnete die Tür. Der Fahrer stieg im gleichen Moment wie ich aus und auf dem Weg zur Eingangstür zur Geschäftsstelle kreuzte er dadurch zwangsläufig meinen Laufweg.
„Keine Sorge, ihren Koffer bringe ich ihnen direkt zum Hotel.“ sagte er freundlich und strahlte dabei, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. „Oder benötigen sie jetzt noch irgendwas?“ fragte er vorsichtig nach.
„Nein, nochmals danke.“ sagte ich und kramte in meiner Innentasche nach etwas Geld. „Hier, für sie. Und danke fürs Schweigen während der Fahrt.“ sagte ich und reichte ihm den einzigen Schein, den ich auf Anhieb lose finden konnte. Der Mann mir Gegenüber sah den 20er überrascht an und wollte ihn mir scheinbar zurückgeben, doch ich hatte mich schon zum Gehen gewandt. „Behalten sie ihn lieber!“ rief ich über die Schulter und der Mann, der gerade anfangen wollte mir nachzudackeln, hielt inne.
„Vielen Dank.“ sagte er dann leise und ich schüttelte den Kopf – wie einfach solche Menschen doch glücklich zu machen waren, und zudem war meinem Gepäck jetzt ein absolut unbeschadeter Weg zum Hotel garantiert und vermutlich würde der Chauffeur, der auch mich später zum Hotel fahren würde, mir dann sogar einen Kaffee besorgt haben.
Ich trat durch die große Eingangstür in die lichtdurchflutete Haupthalle der Münchener Geschäftsstelle und noch während ich mich umsah und den Weg suchte, kam eine aufgeregte Sekretärin auf mich zugestürzt.
„Herr Mikaelsson?“
„Hmm?“ fragte ich und ignorierte das herumwedelnde Geschöpf, dass wie ein Kaninchen auf Crack herumhüpfte und dabei nach einer unangenehmen Mischung aus Kirsche und Billigwaschmittel roch.
„Herr Ismaik erwartet sie in seinem Büro, bitte folgen sie mir.“ sagte sie und reichte mir die Hand zur Begrüßung. Ich hob nur skeptisch die Augenbraue, was sie zu verstehen schien. Sie drehte sich auf dem Absatz um und hoppelte vor mir her zum Ende des Flurs und nach einer kleinen Wanderung durch das Gebäude kam sie – oder es? – vor einer massiv wirkenden Tür zum Stillstand. Sie drehte sich um, nickte in Richtung der Tür und verabschiedete sich mit einer Mischung aus Knicks, Verbeugung und nervösem Kichern wieder in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich atmete noch einmal ein und klopfte dann an – mit meinem Stock natürlich, für einen volleren und dunkleren Klang.
„Herein.“ kam es von drinnen – wieder dieser südländische Akzent, es war wohl Herr Ismaik oder einer seiner Angestellten aus ähnlicher Region. Ich öffnete die Tür und tatsächlich war es Hasan Ismaik persönlich, der als einzige Person im Raum war und hinter seinem Schreibtisch auf einem teuren Ledersessel thronte. „Herr Mikaelsson, wie schön sie zu sehen.“ sagte er und bedeutete mir Gestenreich, mich zu setzen. Ich schritt durch den Raum und nahm auf dem Stuhl ihm Gegenüber Platz, nicht ohne seinen angebotenen Handschlag anzunehmen.
„Wie ist ihnen die Fahrt bekommen?“ fragte er schließlich, nachdem wir uns einige Sekunden angeschwiegen hatten.
„Gut. Zwar etwas langweilig, aber völlig reibungslos.“ sagte ich. „Aber kommen wir doch lieber direkt zum Thema.“
„Ein Geschäftsmann, sehr schön.“ antwortete Hasan Ismaik. „Nun gut, ich gebe ihnen hier schwarz auf weiß... Naja, schwarz auf hellgrau nochmal die Eckdaten ihres Vertrages. Er gilt bis zum Saisonende, ohne Verlängerungsklauseln für beide Seiten. Ihr Grundgehalt sind 42.000€ im Monat, was gut 500.000€ im Jahr entspräche oder eben rund 250.000€ in dme halben Jahr, für das der Vertrag aktuell gilt.“ sagte er und legte seine Trumpfkarte auf den Tisch. 500.000€ im Jahr war für gewöhnlich kein Gehalt eines Zweitligatrainers, mit dieser Summe fingen Trainer in der ersten Bundesliga an – Breitenereiter in Paderborn oder Hjulmand in Mainz hatten weniger verdient. Ich nickte zustimmend – die Zahlen kannte ich bereits aus den E-Mails. „Aber vorher muss ich wissen, ob sie wirklich die richtige Wahl sind. Ich habe mich zu ihnen umgehört, ihre taktischen Fähigkeiten sind beeindruckend und da ich auf diesem Gebiet eher Laie bin, werde ich darüber keine Diskussion vom Zaun brechen. Aber menschlich soll es einige Probleme gegeben haben bei ihrer letzten Station, unter welchen Umständen genau haben sie dort gekündigt?“ fragte er nach. „Und seien sie offen, ich plappere schon nichts aus.“ fügte er an.
„Nun, das war von Anfang an ein schwieriges Unterfangen.“ begann ich die zurechtgelegte Story aufzusagen und Ismaik, dem das nicht entgangen war, hob fast schon mahnend die Augenbraue. „Insgesamt lässt es sich so ausdrücken, dass ich einfach kein Vertrauen mehr zu meinem Sportdirektor hatte und unter diesen Umständen keinesfalls weiterarbeiten konnte.“ änderte ich meinen Gesprächsplan. „Es wurden einige sportliche Entscheidungen über meinen Kopf hinweg getroffen, Spieler wurden ohne mein Wissen verkauft. Wichtige Spieler.“ ergänzte ich und Hasan Ismaik nickte langsam.
„Ich nehme an, es geht um Hvilsom und Christensen?“ hakte er nach.
„Genau. Ich habe von beiden Wechseln erst im Nachhinein erfahren.“ antwortete ich. „Daher wäre das auch eine meiner Bedingungen, hier zu unterschreiben. Ich will im Sportmanagement zugesicherte Autonomie haben, was die erste Mannschaft angeht.“
Hasan Ismaik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie wissen, dass ich das niemals zulassen kann.“ sagte er schließlich. Ich nickte und stand auf – ich wusste, er hatte einen Kompromiss in der Tasche, aber wenn ich zu lange zögerte, würde er ihn womöglich nicht anbieten. „Halt, warten sie.“ sagte er schnell. „Ich kann ihnen Folgendes zusagen: Ich werde keinen Spieler ohne ihr Einverständins verkaufen. Und solange sie im Gehalts- oder Transferbereich kein Minus machen, werde ich zu keinem Transfer mein Veto einlegen. Wie klingt das?“ fragte er und sah mich wieder mit diesem zugleich vertrauensvollen und beängstigenden Lächeln an. Ich überlegte ein paar Sekunden, setzte mich dann aber wieder.
„Einverstanden. Wenn sie es mir vertraglich zusichern.“ antwortete ich und Hasan Ismaik nickte.
„Sie sagten etwas von „eine ihrer Bedingungen“. Was sind die anderen?“ fragte er nach.
„Es ist nichts großes. Der Trainerstab ist ja aktuell unvollständig, nicht wahr?“ fragte ich wiederdum.
„So kann man es auch formulieren, ja.“
„Gut. Dann will ich, dass sie mir ein kompetentes Team zusammenstellen. Ich brauche einen neuen Torwarttrainer, einen Physiotherapeuten und einen Psychologen. Aber die Wahl des Co-Trainers überlassen sie mir und zwar zu einem angemessenen Gehalt.“ sagte ich.
„Was bedeutet „angemessen“?“ fragte Ismaik nach und hob eine Augenbraue.
„Die Hälfte von meinem.“ sagte ich bestimmt. Hasan Ismaik schien zu überlegen, nickte dann aber zustimmend.
„Dann hätten wir das also geklärt. Ich lasse den Vertrag aufsetzen.“ sagte er zu mir und griff nach dem Telefon, bedeutete mir aber zeitgleich sitzen zu bleiben.
Ich wartete mit meinem neuen Vorgesetzten etwa eine Viertelstunde, ehe das Kaninchen von Sekretärin den frisch gedruckten Vertrag durch die Tür brachte. In der Zwischenzeit hatten wir dann doch noch etwas über Fußball geredet und meine Spielideen – und welche personellen Entscheidungen ich treffen wollte, und natürlich auch über die sportliche Situation: Die Löwen hatten im Nachholspiel noch ein Remis geholt und damit die akute Abstiegszone erst einmal verlassen, waren aber dennoch natürlich noch längst nicht außer Gefahr. Nach der Vertragsunterzeichnung stand glücklicherweise noch nichts an, die öffentliche Pressekonferenz war erst für den morgigen Tag angesetzt und einem Twitter-Fantalk musste ich mich auch erst am Ende der Woche stellen. Daher verabschiedete ich mich zeitnah und rief Niels an – und so konnten wir noch am Abend in einem Münchener Restaurant bei Steak und Scotch unseren neuen Arbeitsplatz feiern.
Quellen: Bender-Zwillinge, Geschäftsstelle, Hasan Ismaik |