„Sir, wir landen gleich. Wenn es ihnen also nichts ausmacht, müssten sie sich wieder anschnallen.“ Eine sanfte Stimme weckte mich aus meinem Halbschlaf. Ich sah mich um – ich saß in der vorletzten Reihe eines Linienfluges in Richtung des Flughafens Leipzig/Hameln (natürlich auf einem Gangplatz), Niels sah ich zwei Reihen vor mir sitzen. Doch etwas Anderes erweckte mein Interesse – der nach mildem Moschus und Abfalleimer duftende Mann neben mir war im Tiefschlaf und kurz davor, auf meine Schulter zu sabbern. Ich zog die Schulter kurz ein Stück runter – ohne Wirkung. Ich atmete einmal tief durch, dann griff ich nach meinem Gehstock und verpasste der verunglückten Kreuzung aus Jabba the Hutt und Oscar aus der Sesamstraße einen gefühlvollen Kinnhaken. Der Mann zuckte hoch und sah mich verschlafen und erschrocken an.
„Oh Verzeihung, habe ich Ihnen wehgetan?“ fragte ich betont freundlich. Der Mann schüttelte nur den Kopf und drehte sich weg von mir, benutzte nun seinen anderen Sitznachbarn als Kopfkissen. Ich lächtelte den bitterbösen Blick des Mannes am Fenster weg und schloss die Augen wieder – die letzten paar Minuten des Fluges wollte ich noch meine Ruhe haben, ehe es dann hektisch werden würde – die Panik beim Aussteigen aus dem Flugeug und dann das hektische Gedränge am Gepäckband, als würde es für den ersten einen Preis geben.
Knapp eine Stunde später trat ich mit meinem Gepäck neben mir und Niels im Schlepptau endlich durch die Automatischen Türen aus dem Flughafengebäude ins Freie. Ich schloss die Augen und sog die Luft ein – frische Luft war nach mehreren Stunden im Flieger ein wahres Geschenk, welches man im Alltag viel zu selten würdigte. Auch wenn die Luft unverkennbar nach Abgasen stank, war sie dennoch um Welten besser als noch im Gebäudeinneren. Ich drehte mich zu Niels um und nickte dann in Richtung des Parkplatzes, auf dem laut Internetauskunft mein Wagen stehen würde – aufgetankt und abholbereit. Niels nickte zustimmend und quasi zeitgleich setzten wir uns in Bewegung, und ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich hatte Deutschland durchaus ein wenig vermisst, auch wenn mich die Bürokratie hier und die nahezu zwanghafte Pünktlichkeit manches Mal unermesslich Genervt hatte. Aber im großen und ganzen bewunderte ich Deutschland und vor allen Dingen die Deutschen: Es war ein langer und schwerer Weg gewesen vom „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ zum „'Schland“, aber hier war man ihn stolz gegangen und nicht umsonst im Weltfußball eines der stärksten Länder – und spätestens nach dem WM-Titel im letzten Sommer dürfte man davon auch hier etwas mitbekommen haben, auch wenn man sich mit allen Mitteln dagegen wehrte. Deutsche Bescheidenheit, noch so eine Unart hierzulande, dachte ich mir und schüttelte kaum merklich den Kopf. Mittlerweile waren wir am Eingang des Parkplatzes angekommen und keine Viertelstunde später hatte uns eine nette Osteuropäische Angestellte – nach Tonnen von Papierkram – den Stellplatz des Wagens gezeigt und wir saßen im Auto auf dem Weg in Richtung Leipziger Innenstadt. Wir sprachen kein Wort währenddessen – Niels schien sowieso kurz vor dem Einschlafen zu sein und für mich war das ein guter Moment, in Ruhe über die Angebote nachzudenken, die mir aktuell konkret vorlagen. Habe ich euch von denen schon erzählt? Ich glaube nicht, dann sollte ich das mal Nachholen. Ich hatte quasi bei allen Erst- und Zweitligisten aus Deutschland und England angefragt und auch einige Rückmeldungen erhalten. Zwar waren es überwieged Absagen oder nur Angebote für einen minderwichtigen Posten – als Co-Trainer oder ähnliches – aber bei einigen Vereinen gab es dann doch ernstes Interesse an meiner Person als Chefcoch. Der erste Verein, von dem ich eine Anfrage bekommen hatte, war der SV Kieler Holstein aus der dritten Liga. Die „Störche“ hatten im Vorjahr noch die Relegation erreicht und diese denkbar knapp und unglücklich gegen 1860 München verloren, doch kamen in dieser Spielzeit nicht aus dem Tabellenkeller heraus. Eigentlich war mir aber ein „größerer“ Verein aus einer höheren Liga lieber und so ließ ich die Norddeutschen abblitzen und wartete darauf, dass sich einer der von mir angeschriebenen Vereine meldete. Die erste Bekundung von Interesse kam dann aus England: Der FC Burnley, in der letzten Saison noch Erstligist, war nun in der Championship gelandet und bekam während der Hinrunde am Fließband auf die Fresse, stand zur „Winterpause“ – eine wirkliche Pause gab es in England ja nicht – auf dem 17. Platz. Schon bald bekam auch die Presse Wind davon und so sahen sich die Vertreter des Vorstandes gezwungen, schnell zu handeln – und zogen ihr loses Interesse wieder zurück. So hatte ich auch während der Anfangszeit in meiner alten und neuen Heimat Leipzig noch viel Arbeit vor mir, mich um eine neue Trainerstelle zu bemühen – immerhin bekam ich jedoch während der ersten Tage zwei lose Rückmeldungen von deutschen Zweitligisten. Zum einen der 1. FC Kaiserslautern: Die „Roten Teufel“ hatten sich selbst zum Aufstiegsaspiranten erklärt und nach 19 Spieltagen zur Winterpause sah die Situation dort dann doch etwas bescheidener aus: Trotz teurer und wirklich guter Spieler wie Chris Löwe, Ruben Jenssen oder Daniel Halfar standen sie auf Platz 12 und damit 11 Plätze hinter ihrem Saisonziel, waren durch eine Niederlagenserie in den letzten Spielen sogar der Abstiegszone nahe gekommen. Cheftrainer Kosta Runjaic wurde bereits abgesägt, doch auch sein zum Cheftrainer auf Zeit erkorener Nachfolger Konrad Fünfstück, den man von der U23 in die Zweite Liga beförderte, zeigte sich nur unwesentlich stärker. Kennen sie Konrad Fünfstück nicht? Das ist dieser Typ, der erschreckende Ähnlichkeiten mit dem kleinen, blassen Nerd von der Uni hat, der zum Abschlussball kein Mädchen eingeladen bekommt und deswegen mit einem Fisch im Kleid kommt. Gibt es nicht, denken sie? Gibt es doch! Jedenfalls befand ich mich mit den Lauteren bereits in Gesprächen, doch auch ein anderer Zweitligist hatte sein Interesse per Mail bekundet: Der TSV 1860 München, letztes Jahr Gegner Kiels in der Relegation und diese Saison auf gutem Wege, den Abstieg endgültig zu schaffen. Die Münchener Löwen waren dabei überragend in die Saison gestartet und hatten nach fünf Spielen elf Zähler auf dem Konto (3 Siege, 2 Remis). Doch danach gab es eine wahrhaft erschreckende Serie mit nur einem weiteren Zähler und neun Niederlagen, so dass die Münchener auf Platz 16 überwinterten. Trainer Torsten Fröhling – der übrigens nicht nur so aussah wie ein Hauptschulabbrecher, sondern in Interviews auch so klang – wurde nach 15 Spieltagen beurlaubt, auch sein Nachfolger aus der eigenen U19 schaffte keinen weiteren Sieg und holte aus vier Spielen zwei Niederlagen und zwei Unentschieden. Die Presse bekam davon amüsanterweie nichts mit, dafür wurde ich mit einem anderen Verein in Verbindung gebracht – dem FC St. Pauli, der es sich – noch mit „Anfangstrainer“ Ewald Lienen – mittig zwischen Kaiserslautern und München auf Platz 14 bequem gemacht hatte. Und so kam es, dass ich am vierten Advent 2015 mit meinem Laptop am Esstisch saß – Niels hatte sich tatsächlich gefangen, sah sich nach Arbeit um und vor allen Dingen kochte er – und überlegte, gegenüber welchem der beiden Vereine ich konkret werden und mit Welchem ich verhandeln sollte. Ich hatte bei Ente an Klößen und Rotwein mit Niels darüber ausführlich diskutiert, oder vielmehr war er durch den begrenzten Wohnraum dazu gezwungen sich meine Monologe anzuhören, als eine weitere E-Mail meine Aufmerksamkeit weckte.
Die Mail kam von einer mir bisher unbekannten Adresse, ließ sich jedoch schnell zuordnen: Sie schien zu Hasan Ismaik oder vermutlich eher einem seiner Angestellten zu gehören – für alle unwissenden: Hasan Ismaik, ausgewisener Menschenfreund und sympathischer Geschäftsmann aus Jordanien, war der „Mäzen“ von 1860 München und als Vorstandsvorsitzender und Investor die treibende Kraft. Ich überlog die Mail mehrmals, ehe ich sie dann doch gründlich las – und war zugegebenermaßen doch überrascht. Der Starke Mann der Löwen wollte mich scheinbar unbedingt und schien es gewohnt zu sein, seinen Willen zu bekommen – und schien nicht so wirklich angetan davon zu sein, dass ich seinen Verein so lange zappeln ließ. Die Mail enthielt einige ziemlich konkrete Angaben dazu, was ich verdienen könne und was mir außer an Geld noch zustünde – neben einem kostenfreien Leasingwagen (Was sollte ich bitte damit?) und für die ersten Monate einem kostenfreien Hotelzimmer in München luden noch zahlreiche andere Vergünstigungen ein, mich damit näher auseinanderzusetzen. Doch dumm war Ismaik nicht vorgegangen, denn er wusste, dass man einen neuen Trainer schnellstmöglich holen musste. Die E-Mail enthielt eine Einladung – oder eher Vorladung – zu einem „finalen Vorstellungsgespräch“ am 23.12., also in drei Tagen, in der Geschäftsstelle des TSV 1860 in der Grünwalderstraße. Ich wurde allerdings auch darum gebeten, mich schnellstmöglich zu melden, da die Trainerfrage dort schnellstmöglich würde beantwortet werden müssen, um zum einen eine Massenpanik zu vermeiden und zum anderen dem neuen Trainer die Möglichkeit zu geben, sich vor der Transferphase bereits mit einigen Personalien auseinanderzusetzen. Allerdings sollte ich mir nicht zu sicher sein, da man noch „eine weitere Kandidatin“ in der engeren Auswahl habe. Ich zog eine Augenbraue hoch und nachdem ich dem 1. FC Kaiserslautern höflich, aber bestimmt abgesagt und das Vorstellungsgespräch in München bestätigt hatte – das Gehalt war nunmal höher, die Aufgabe generell reizvoller und München auch deutlich angenehmer zu bewohnen als Kaiserslautern – recherchierte ich über meine angebliche Gegenkandidatin. Tatsächlich – selbst im Kicker war ein Artikel darüber aufgetaucht, dass der TSV 1860 München in „fortgeschrittenen Gesprächen“ mit einer Kandidatin war, namentlich mit Jana Menzel. Die 28 Jahre alte deutsche arbeitete derzeit unter Markus Babbel beim FC Luzern und hatte während ihres DFB-Trainerlehrganges auch ein Praktikum bei Hannover 96 absolviert. Auch der Punkteschnitt der Luzerner sprach nicht gegen sie, qualifiziert zu sein schien sie tatsächlich. Aber dennoch – eine Frau? Als Cheftrainerin im deutschen Profifußball? Ich schüttelte amüsiert den Kopf, diese ganze Emanzipation und Gleichberechtigung nahm langsam wirklich skurrile Ausmaße an. Doch stören sollte mich das nicht – meine Entscheidung war gefallen, ich würde das Angebot aus München bei einem halbwegs vernünftig laufenden Gespräch annehmen.
Ich stand auf, klappte meinen Laptop zu und sah mich um – Niels stand auf dem Balkon und ließ seinen Blick über die Leipziger Innenstadt schweifen. Ich atmete tief durch und machte mich auf den Weg zu ihm – ich würde ihn nicht nur über meine Entscheidung informieren müssen, ich hatte auch noch eine andere Frage.
„Niels?“ fragte ich vorsichtig, als ich auf den Balkon trat.
„Ja?“ fragte er zurück und drehte sich um.
„Ich habe mich entschieden. Ich gehe –“
„Nach München.“ beendete Niels den Satz. Ich sah in verwundert an. „War klar. Passt auch besser zu dir.“ erklärte er mit weiser Stimme.
„Gut, wie du meinst. Jedenfalls habe ich dort ein Vorstellungsgespräch am 23. Dezember, danach sollte ich dort ein Hotel beziehen. Aber darum geht’s nicht.“ fuhr ich fort, doch Niels unterbrach mich.
„Ich habe eine wichtige Frage.“
„Und zwar?“ fragte ich – meine Frage würde ich wohl hintanstellen müssen.
„Ich wollte wissen, ob dein Angebot immer noch gilt.“ druckste Niels herum.
„Mein Angebot?“
„Du weißt schon, von damals... Als wir zusammen Champions League geguckt haben, Turin gegen Kopenhagen.“ Ich war baff – genau das wäre auch meine Frage gewesen.
„Ja, das gilt noch.“ antwortete ich und Niels war drauf und dran, mir um den Hals zu fallen. „Ich werde gucken, was sich machen lässt. Ich melde mich dann aus München.“ sagte ich und wich einen Schritt zurück, ein Signal, dass Niels zu verstehen schien. Er nickte und fügte selbst an „Viel Glück dort.“
Quellen: Flughafen, Jana Menzel |