Ein Drittel der menschlichen Bevölkerung ist bescheuert. Manchmal auch die Hälfte, das hängt vom Wetter ab. Nicht? Vielleicht erklärt mir dann mal jemand, warum die erschreckende Mehrheit der dänischen Stadtbevölkerung bei den ersten Regentropfen im Stadion sofort ein unfassbar blödes Gesicht macht und die Schultern hochzieht. Glauben diese Menschen wirklich, sie würden durch blöde Grimassen auch nur einen Tropfen weniger abbekommen? Eine rhetorische Frage mit einer sehr, sehr traurigen Antwort: Sie glauben es. Doch das sollte mich heute nicht stören, dachte ich mir, während ich im Nieselregen von Hobro stand und den Spielern beim letzten Aufwärmen zusah. Immerhin im Fanblock wurde für Stimmung gesorgt, ein Transparent mit dem Schriftzug „Videre til Europa!“ – zu deutsch „Auf nach Europa!“ – zierte die Ränge und veranschaulichte nochmal das, worum es heute ging – um den Einzug in die Qualifikation zur UEFA-Europa League. Die Ausganslage war klar: Wir lagen zwei Punkte vor Brøndby, jedoch mit der schlechteren Tordifferenz – würden wir verlieren oder unentschieden Spielen, könnte uns Brøndby überholen und Platz 3 erobern. So konnten wir also nur mit einem Sieg sicher sein, vor allen Dingen, da Brøndby mit Silkeborg echtes „Kanonenfutter“ zu Gast hatte. Am Kader hatte ich vor dem Spiel gegen Midtjylland nichts geändert, das letzte Spiel war überzeugend genug gewesen und zudem sah ich nicht wirklich eine Möglichkeit, ohne Qualitätsverlust irgendwo zu rotieren.
Aufstellung Hobro IK: Ankergren – Tjørnelund, Christensen, Justesen, Bøge – Thygesen, Damborg – Hvilsom, Andreas Pereira, Bersang – Böðvarsson
Aufstellung Midtjylland FC: Dahlin – Lauritsen, Sviatchenko, Larsen, Bach Bak – Poulsen, Sparv, Andersson – Sly, Rasmussen, Sisto
Unser wohl größter Vorteil in diesem Spiel war, dass es für unseren Gegner um nichts mehr ging. Man stand nach einer insgesamt recht enttäuschenden Saison am Ende auf Platz 5, mit einem Sieg könnte man maximal noch auf Platz 4 springen, mehr auch nicht. Dementsprechend gingen die Gäste auch recht locker und gelassen in die Partie, während unsere Spieler – angetrieben von 7.500 Zuschauern im ausverkauften Stadion – von der ersten Minute an auf den Sieg gingen. Ich hatte zwar ausgemacht, keine Zwischenstände auf der Videoleinwand über der Trainerbank anzeigen zu lassen, doch im Zeitalter der Smartphones hielt das die Nachrichten nicht auf. Entsprechend konnte ich mir gut denken, was nach sieben Minuten für vorrübergehende Resignation sorgte: Anscheinend war Brøndby soeben in Führung gegangen. Meine Spieler bekamen das jedoch kaum mit, stattdessen bespielten sie weiter die Abwehrkette Midtjyllands und lauerten auf die erste Chance, die es nach gut zehn Minuten gab: Jón Böðvarsson wurde hart an der Abseitskante von Mads Hvilsom geschickt, doch anscheinend war es auch ihm zu viel Freiraum – der Isländer verlor die Nerven und drosch den Ball frei vor dem Tor in die Wolken. Doch ein paar aufmunternde Worte meines Co-Trainers bauten den Torjäger wieder auf, der ansonsten ein sehr gutes Spiel machte und immer anspielbar war. Midtjylland dagegen kam überhaupt nicht zum Zug: Ein harmloser Schussversuch von Sylverster „Sly“ Igboun landete in den Armen von Ankergen, der auch ansonsten ein absolut souveräner Rückhalt war – die große Erfahrung unseres Schlussmannes machte sich bezahlt, der Routinier dirigierte die Abwehr optimal. Aber wie gesagt – viel zu tun hatte er nicht wirklich. Stattdessen sah er sehr häufig uns im Ballbesitz, wie abgesprochen ging Mads Hvilsom immer wieder als zweiter Stürmer ins Zentrum und machte Platz für Jacob Tjørnelund, unseren mit insgesamt sechs Vorlagen besten Assist-Geber. Der Außenverteidiger leitete mit einem seiner Vorstöße auch unseren nächsten Angriff ein: Andreas Pereira sah im richtigen Moment die Lücke in der Abwehrkette und schickte Tjørnelund, der sich mit dem Ball am Fuß kurz umsah und dann auf den zweiten Pfosten flankte. Jón Böðvarsson stieg hoch, köpfte den Ball aufs Tor, scheiterte aber an John Dahlin. Es gab noch einige weitere Halbchancen im ersten Durchgang, doch wirklich heraus ragte nur eine Szene. Nach einem Ballverlust von Sparv an Damborg spielte der den Ball direkt auf Matthias Bersang. Der nahm Tempo auf und war eigentlich frei durch, doch Dahlin kam aus seinem Kasten und grätschte ihm in die Beine. Bersang legte sich den Ball vor und versuchte noch auszuweichen, doch die Sense des Midtjylland-Schlussmannes traf ihn mit voller Wucht am Knöchel.
„Blóðugur sóðaskapur! Das ist doch Rot!” schrie ich außer mir. Lars Justesen stand neben mir und schimpfte wüst, und auch die Fans skandierten „Smid ham ud!” – „Schmeiß' ihn raus!” auf dänisch. Der Schiedsrichter schien das auch so zu sehen und stellte den Torhüter nach kurzer Diskussion vom Platz, auch wenn Midtjylland-Coach Glen Riddersholm sich unfassbar aufregte und wie ein Rohrspatz auf den vierten Offiziellen einschimpfte. Es änderte nichts – aber es gab für uns trotz der natürlich vorteilhaften Überzahl für die kommenden 45 Minuten keinen Elfmeter, sondern nur einen Freistoß. Mikkel Thygesen trat an, doch der Schuss landete auf dem Tornetz – so gingen wir mit einem torlosen Remis in die Kabine.
„Jungs, reißt euch zusammen! Wir sind jetzt 45 Minuten in Überzahl, nutzt das aus. Macht euch eines klar: Ihr könnt es schaffen, selbst wenn Brøndby 10:0 gewinnt – wenn wir auch gewinnen, dann haben wir hier nächste Saison Europapokal! Also, guckt, wo sich Räume bieten, wenn ihr schnell spielt, kriegt ihr das hin und dann machen wir die fertig!“ motivierte ich meine Spieler nochmal. Auch personell nahm ich einen Wechsel vor: Nachdem bei Midtjylland Tim Sparv für den zweiten Torhüter Jakob Haugaard Platz machen musste und das Zentrum dementsprechend verwaist sein würde, brachte ich mit Mads Jessen für Jonas Damborg nochmal einen offensiveren Spieler für die Mittelfeldposition hinter Andreas Pereira. Die zweite Halbzeit ging weiter, wie die erste aufgehört hatte: Mit uns im Ballbesitz, spielbestimmend und vor allen Dingen mit Chancen: Ein Pass von Jessen fand Hvilsom, doch der Linksaußen zog zu überhastet ab und der Schuss wurde zu einer Aufwärmübung für Haugaard. Doch nach gut 75 Minuten war es dann endlich so weit: Mads Jessen ließ Andersson aussteigen und löffelte den Ball dann aus dem rechten Halbfeld in den Strafraum. Andreas Hoelgebaum Pereira nahm den Ball mit, schaute kurz hoch und setzte den Ball dann gezielt ins lange Eck. „JA MAN!“ schrie ich und sprang halb von der Bank auf, neben mir lagen sich mein Co-Trainer Lars Justesen und Torwarttrainer Anders Halland in den Armen. Doch das war nichts gegen Andreas Pereira: Der zierliche Offensivspieler hatte sich das Trikot vom Leib gerissen und stürmte in Richtung der Fans, Mikkel Thysesen hatte alle Mühe, ihn vom Besteigen des Zauns und damit einer womöglichen Gelb-Roten Karte abzuhalten. Doch danach war das Spiel nicht mehr dasselbe. Unsere Spieler schienen irgendwie gehemmt zu sein, waren mit dem Kopf vielleicht schon nach dem Spiel bei den Feierlichkeiten und Midtjylland wurde stärker. Meine Augen wanderten zur Uhr, die die 89' Minute anzeigte, als wir wieder einmal einen Ball leichtfertig herschenkten und den Gästen eine Kontermöglichkeit offenbarten.
„Wie steht's bei der Konkurrenz?“ fragte ich auf die Bank, ohne meine Augen vom Feld zu nehmen.
„3:0 Brøndby.“ kam es von irgendwo zurück.
Ich hörte es kaum, denn da schien der eine Patzer zu sein, der uns diesen Traum noch kosten konnte: Jessen verschätzte sich bei einem Seitenwechsel der Gäste, Sly bekam den Ball und nahm über die Seite fahrt auf.
„Hey, her mit dem Ding!“ schrie ich den Balljungen neben mir an. Der sah mich verduzt an und warf mir den Ball zu, ich zögerte kurz und schleuderte das Leder dann auf den Platz genau in den Lauf des Nigerianers. Der verstolperte sich und als der Referee eingriff, war die Konterchance schon vorbei und Sylvester Igboun musste von zwei Mitspielern abgehalten werden, mich nicht anzuspringen, wie es schien. Ich dagegen lächelte nur und ging los, wohlwissend das ich vom Schiedsrichter gleich auf die Tribüne geschickt würden werde. Ich stand keine zwei Meter hinter der Trainerbank, während die letzten Sekunden von der Uhr liefen – dann war Schluss und unter wütenden Gesten von der Gästebank erdrückten einen vor allen Dingen die Jubelschreie der Hobro-Fans und -Spieler. Ich drehte mich um und sah Niels im „VIP-Bereich“, der meinen Blick suchte und nur mit dem Kopf schüttelte, aber dennoch gelassen lachte. Ich nickte ihm zu und ging in die Katakomben des Stadions, während hinter mir feiernde Fans den Rasen stürmten – die Ordner hatten es aufgegeben, sie länger zurückhalten zu wollen.
Quellen: Dahlin, Mannschaft |