Die Woche nach dem spektakulären 1:0 über Randers hätte durchaus besser beginnen können. Anders Egholm wurde zwar nur für ein Spiel gesperrt und ich würde garnicht gesperrt werden, doch ich musste 15.000€ Strafe zahlen wegen „Bedrohung eines Verbandsoffiziellen“. Nicht dass ich das Geld nicht hätte, aber ich gab es doch eigentlich lieber für andere Dinge aus. Dennoch kam ich der Forderung auf Anraten meines Nachbarn und Freundes Niels nach, der meinte, der DBU wäre mit solchen Strafen „Nur beim ersten Mal so gnädig.“ und ich solle lieber nicht in Berufung gehen. Apropos Niels, der stand auch nun vor meiner Tür und klingelte um Einlass. Es war Mittwoch, seine Frau war mit der Tochter bei ihren Eltern und Niels würde bei mir den Abend verbringen. Ein Männerdate, nur Er, Ich, Pizza und TV2 Sport. TV2 Sport war der seit dem 9. Januar existierende Free-TV-Sender, der Fußball übertrug – heute das Viertelfinal-Rückspiel der Champions League zwischen dem FC Kopenhagen und Juventus Turin. Kopenhagen hatte tatsächlich die Gruppenphase überstanden und im Achtelfinale sensationell Zenit St. Petersburg besiegt, wobei besiegt zu viel des Lobes wäre: Mit einem 0:0 zu Hause und einem 1:1 in Russland kam man dank der Auswärtstorregel weiter. Das Hinspiel des Viertelfinales hatten die Hauptstädter mit 0:2 im heimischen Telia Parken verloren, so dass ein Weiterkommen gegen die Italiener im Juventus Stadium ein Fußballwunder wäre. Mein Haus war zwar nicht auf langfristigen Besuch eingestellt, doch neben den schwarzen Ledersesseln hatte ich heute auf den niedrigen Glastisch ein zweites Glas neben die Flasche mit meinem Glanmorangie Single Malt gestellt – mehr Gastfreundschaft ging eigentlich nicht.
„Schön, dass du auch mal aufmachst.“ begrüßte mich Niels und stapfte durch die Tür.
„Tut mir leid, es soll Leute geben, die durch ihr Humpeln etwas langsamer sind.“
„Ist ja schon gut...“ sagte Niels beschwichtigend und ließ den Blick durch mein Wohnzimmer schweifen. Mir viel auf, dass er das erste Mal hier war – dass er nach Amanda überhaupt erst der zweite Gast hier drin war. Er musterte meine unbenutzt aussehende Küche und seine Augen blieben schließlich an meiner „Sitzecke“ hängen, wo ich mich sodann niederließ.
„Nett hier.“ sagte er höflich, doch es war klar, dass er einen deutlich herzlicheren Einrichtungsstil bevorzugte.
„Danke, aber du brauchst nicht zu schleimen.“ sagte ich mit einem lachen.
Niels nickte nur stumm und setzte sich in den freien Sessel, während ich ihm ein Glas hinhielt. Niels nippte daran und ich sah, dass ihm das keineswegs missfiel.
„Der Scotch ist... gut, richtig gut.“ sagte er und ich nickte nur stumm, während ich den Fernseher einschaltete. Die Vorberichterstattung lief in vollen Zügen – bis zum Anstoß war es noch fast eine halbe Stunde, und Niels nutzte das, um ein anderes ihm wichtiges Thema anzuschneiden. „Hattest du irgendwas geplant fürs Abendessen?“
„Wir könnten was vom Chinesen bestellen.“ sagte ich, während ich aufstand. „Nudelbox, oder so.“
„Nudelbox? Ähm, ok...“ sagte Niels überrascht und ich wusste genau, was er dachte – wie konnte jemand mit so einem guten Scotch-Geschmack so einen schlechten Essensgeschmack haben.
„Das war ein Scherz, du Genie.“ sagte ich, als ich die offene Küche erreichte. Ich öffnete den Kühlschrank und holte zwei dicke Scheiben Fleisch heraus. „Es gibt Steak, und dazu Folienkaroffeln – is doch auch ok?“ sagte ich lachend, während ich zwei Kinderkopfgroße Kartoffeln aus dem Küchenschrank holte. An Niels' Gesicht erkannte ich, dass er damit mehr als zufrieden war und sein Nicken diesmal definitiv ernst gemeint. Ich begann mit den Kochvorbereitungen und wimmelte meinen Nachbarn dabei mehrfach ab, der mir mit einer Penetranz seine Hilfe aufzudrängen suchte, die sich gewaschen hatte. Doch ich machte in Ruhe weiter, ehe es zur Frage des Abends kam – eine Frage, die viel über die Klasse eines Menschen aussagte.
„Wie willst du dein Steak?“ fragte ich, während ich meines – Rare – aus der Pfanne auf meinen Teller verfrachtete. „Und wenn du jetzt Well Done sagst, muss ich dich leider erstechen.“
„Rare, keine Sorge.“ gab Niels amüsiert zurück – da hatte er aber mal ******* gehabt.
Er stand auf und holte sich seinen Teller mit der noch dampfenden Folienkaroffel ab und trug auch meinen zum Fernsehtisch, wofür ich insgeheim dann doch dankbar war – gehen mit einem Teller in der Hand war schwer genug, mit zwei Tellern war es eigentlich unmöglich.
„Und, für wen bist du?“ fragte er mich, während die Champions-League-Melodie den nahenden Anpfiff ankündigte.
„Ich glaube, für Kopenhagen. Wird nur leider nix werden.“ sagte ich und begann zu essen.
„Ich fürchte auch. Ein Remis könnte man ja vielleicht sogar schaffen, aber das 0:2 holen die nicht auf.“ sagte er und tat es mir gleich.
Das Spiel war in der Anfangsphase sehr langweilig und eigentlich nicht ansehenswürdig – Kopenhagen lauerte auf einen Konter, um den wichtigen Führungstreffer zu erzielen, Juventus dagegen ließ Ball und Gegner gut laufen und vorerst keine Konterchancen zu. Dafür konnten wir unaufgeregt essen und uns über das Spiel und auch über meine Saison bei Hobro unterhalten – und ich war abermals verblüfft, mit wie viel Fachwissen Niels aufwarten konnte – seien es gut gemeinte taktische Ratschläge zu meinem Job oder auch die treffende Analyse der an Cattenaccio erinnernden Abwehrtaktik von Juventus Turin. Es tat gut, mal mit jemandem zu reden, der ebenfalls Ahnung von Fußball hatte, aber gleichermaßen keine „Vorprägung“ durch irgendeine Fußballschule und damit eine erfrischend andere Einstellung zu vielen Dingen, so vor allen Dingen zu Flanken: Während ich – wie wohl so ziemlich jeder Fußballtrainer, der nicht bei Barcelona coacht oder coachte, Flanken als durchaus probates Mittel ansah (jedenfalls, wenn man einen dazu passenden Stürmer hatte), lehnte Niels sie strikt ab und wartete sogar mit Statistiken auf, die die Ineffizienz von Flanken untermauerten. Diese zeitweise sehr fachsprachlichen Dialoge veranlassten mich dann auch dazu, Niels eine Frage zu stellen, die mich schon seit längerem beschäftigte.
„Niels – wie kommt es eigentlich, dass du bei all deiner Fußballkenntnis und Fußballbegeisterung nicht in diesem Bereich Karriere gemacht hast, sondern als Arzt?“
Niels schien über die Frage lange nachzudenken, ehe er antwortete. „Ich weiß auch nicht. Ich glaube, es lag damals an der Sicherheit. Mit einem guten Medizinstudium in der Tasche war mir eigentlich ein neuer Job sicher, als Trainer, Manager oder irgendwas in der Fußballwelt – da hast du kaum Planungssicherheit. Wieso fragst du?“
„Naja, eigentlich nur so. Aber ich habe vermutlich nächste Saison die Chance, selber mitzureden bei den Mitarbeiterverträgen und könnte vielleicht –“
„Mååååååååååååååålt!!! Nicolai Jørgensen!!!“
Wir sahen beide auf – und trauten unseren Augen nicht. Nicolai Jørgensen hatte den FC Kopenhagen gerade in Führung geschossen und mit dem 0:1 das kleine Wunder in die Nähe des Möglichen gebracht. Wir sahen beide wie hypnotisiert auf den Fernseher, als die Wiederholung eingeblendet wurde: Ein einfacher Steilpass von Ruri Gíslasson öffnete die Abwehr, Jørgensen nahm den Ball mit Risiko direkt und ließ dem viermaligen Welttorhüter Gialuigi Buffon keine Chance. Wir sahen uns verduzt an und ich hob die Hand zum High-Five. Niels schlug ein und wandte sich dann wieder unserem Gespräch zu.
„Was wolltest du gerade sagen?“
„Bevor mich Mærk Poulsen unterbrochen hat –“ sagte ich und nickte in Richtung des Fernsehers, aus dem der TV2-Sports-Kommentator weiter vor sich hin redete „wollte ich eigentlich darauf hinaus, dass ich – sollte ich bei Hobro bleiben – bestimmt bei der Einstellung von Mitarbeitern ein Wort mitzureden hätte. Und wenn du wollen würdest, könnte ich dich da sicher irgendwie mit Einbinden.“ sagte ich.
Niels dachte wieder eine Weile nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Danke, aber ich denke nicht. Ich bin mit meinem momentanen Job sehr zufrieden... Und vor allen Dingen soll man ja laut Sprichwort nicht da aufs Klo gehen, wo man isst. Das bezieht sich bestimmt eher auf Ehefrauen oder Freundinnen als auf Freunde, aber ich würde nur ungerne auf deinen Dessertwagen pinkeln.“
Ich sah ihn an und amüsierte mich darüber, wie er selbst zu begreifen schien, wie falsch sich das alles anhörte. „Ähm, also ich meinte, ähh...“
„Schon gut.“ unterbrach ich ihn. „Wollte ja nur mal gefragt haben.“ meinte ich lachend und Niels wandte sich Kopfschüttelnd wieder seinem Steak zu, von dem nur noch wenig übrig geblieben war. Den restlichen Abend schnitt ich das Thema dann nicht mehr an, auch wenn ich mir sicher war, dass Niels' Absage an Hobro nicht endgültig war, aber für den Moment sollte ich es damit gut sein lassen. Stattdessen sahen wir das Spiel zu Ende und diskutierten darüber, und am Ende kam (leider) alles so wie erwartet: Noch vor der Pause glich Carlos Tevez aus, im zweiten Durchgang trafen dann auch noch Paul Pogba und nach einer Ecke Giorgio Chiellini und besiegelten so das Ausscheiden Kopenhagens aus der Königsklasse. Die Turiner waren zudem im Halbfinale das einzige Team aus Südeuropa: Borussia Dortmund, der FC Bayern München und der FC Chelsea standen noch da, Real Madrid und der FC Barcelona hatten gegen die beiden deutschen Vereine die Segel streichen müssen.
Quellen: Steak, Jørgensen |