Es ist das Reich von Leere, 40 Jahre zu durchreiten,
fürchtet des Bösen Stärke, gewiss es folgen dunkle Zeiten
„Du Karson, die Suppe ist mal wieder köstlich.", rief Naithan in Richtung des Tresens und ließ sich einen weiteren Löffel der roten Brühe schmecken. Karson nickte ihm mit einem Augenzwinkern zu, nicht sicher, ob er seinen Ziehsohn richtig verstanden hatte.
Die Taverne war erfüllt von angeregten Gesprächen, klirrenden Krügen und knackendem Kaminholz. Aus einer dunklen Ecke vernahm man die zarten Klänge eines Geigers, die der ausgelassenen Stimmung immer mal wieder zum Opfer fielen. Es war warm, die Luft war stickig und auch sonst war alles so wie immer.
Karson hatte seine Gäste gut im Blick und war mal wieder damit beschäftigt, das Geschirr auf Hochglanz zu polieren. So brüchig die alte Holzhütte auch war, eines musste man dem dicklichem Gastwirt lassen. Er war stets darauf bedacht sein Lokal sauber zu halten und es im besten Licht zu präsentieren. Neben seiner Eitelkeit galt Karson zwar als freundlich, hatte sich öfter aber auch schon als launenhafter Gastwirt erwiesen. So konnte es schon mal vorkommen, dass eine fallengelassene Suppenschüssel einer Kellnerin die Arbeit kostete oder er wegen einer verlorenen Partie Karten seine komplette Kundschaft vor die Tür setzte. Trotz dieser Umstände war die alte Taverne schon immer ein gut besuchter Ort, zumal jeder wusste, dass hier die köstlichsten Speisen der Region serviert wurden.
„Naithan, 30 Kröten.", fuhr ihn Gregor in grobem Ton an.
„Wie bitte?"
Genervt zeigte Gregor mit seiner rechten Pranke in die Mitte des wackeligen Holztisches an dem sie saßen.
"Gehst du nun mit, oder was?"
Naithan musterte sein Blatt. Im trüben Licht des Kaminfeuers erkannte er nur schwer, dass ihm das Erscheinen einer 4 eine Straße einbringen würde. Sollte es das Schicksal mal gut mit ihm meinen, würde er seinem kräftigem Gegenspieler damit einen großen Batzen Geld abnehmen. Allerdings bedeuteten 30 Kröten auch eine Woche Essen und knapp bei Kasse war er sowieso schon. Er zögerte.
"Nee, ich bin raus.", sagte Naithan schließlich und schnippte seine Karten zurück in den Stapel. Zufrieden mit seiner Entscheidung schlürfte er einen weiteren Löffel seiner Suppe, während Gregor schon damit begonnen hatte, das Deck für eine neue Runde zu mischen.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall, der alle Leute im Gasthaus aufschrecken ließ! Die Tür des Lokals stand sperrangelweit offen. Vor ihr lag ein Mann regungslos am Boden. Seiner Erscheinung nach, musste er schon sehr lange unterwegs gewesen sein. Es sah so aus, als sei er vor Erschöpfung gestolpert und regelrecht mit der Tür ins Haus gefallen.
"Du liebe Güte, Kemian!", platze es aus Karson heraus. Unter der erschrockenen Masse machten sich fragende Blicke breit. Auch Naithan hatte den Mann, den sein Ziehvater soeben erkannt hatte, noch nie gesehen.
"Los, tragt ihn sofort nach oben!", wies er die entrüstete Kundschaft an und wetzte hinter seinem Tresen hervor.
Er und zwei weitere Gäste packten sich den alten Mann und machten sich auf in Richtung Treppe. Der Rest der Leute stand immer noch wie angewurzelt da.
"Naithan!", rief Karson noch auf halben Wege Richtung Obergeschoss. "Bring uns noch eine Suppe nach oben. Und beeil dich, der Mann braucht was Warmes!"
"Ja doch, sofort.", stotterte Naithan, der sich noch nicht ganz von seinem Schrecken erholt hatte und eilte in die Küche. Nach kurzer Zeit fing der Geiger wieder an zu spielen.
Als Naithan das Gästezimmer betrat sah er, dass der alte Jäger wieder ein wenig zu Kräften gekommen war. Er saß auf dem Bett und sein Körper war in eine dicke Wolldecke gehüllt. Die vor Nässe triefenden Kleider hatte man ihm abgenommen und hingen nun über dem Stuhl. Karson saß auf der vorderen Kante und beugte sich zu dem Alten vor. Mit erstarrtem Gesicht sah er den Jäger an. Noch nie hatte Naithan ihn so fassungslos erlebt.
„Und du hast es mit eigenen Augen gesehen?", fragte er den erschöpften Gast. Trotz der Decke war Kemian noch immer am Zittern und konnte nur mit schwacher Stimme antworten.
„Vor zwei Nächten bei der Lichtung von Gabron. Ich sah es klar und deutlich. Sie waren zu dritt, machten sich über einen Hirsch her.“
Kemian musste mehrmals niesen. Sofort reichte Naithan ihm die Suppe und spitzte weiter die Ohren, als der Jäger fortfuhr.
„Sie saugten ihm die Kraft aus, aßen sein Fleisch und tranken sein Blut. Es war so grauenhaft."
Karson blickte wie versteinert aus dem kleinen Dachfenster.
„Du weißt was das heißt, oder?", fragte er schließlich und wandte seinem Blick wieder dem Jäger zu.
Kemian nickte langsam. „Ja", entgegnete er dann und nahm einen kräftigen Schluck von der Suppe.
„Und der Rauch? War er schon da?“, drängte Karson mit der verzweifelten Hoffnung, dass sein Gegenüber es verneinen würde. Doch der alte Jäger nickte erneut.
„Noch nicht so viel wie damals. Aber ja, der rote Rauch war da.“
Fragend, schaute Naithan seinen Ziehvater an. Zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass dessen Augen mit Tränen gefüllt waren, seine Lippen bebten und sich seine Hände zu zitternden Fäusten geformt hatten.
„Karson, was ist hier eigentlich los?“, wollte Naithan wissen, fast schon wütend darüber, seinen Ziehvater das erste mal in einem so hoffnungslosem Zustand zu sehen.
Karson packte ihn mit festem Griff an den Schultern und schaute mit ernsthafter Miene auf ihn herab. In seinen verweinten Augen stand die reinste Entschlossenheit geschrieben.
„Naithan, hör mir zu! Du gehst jetzt hinters Haus, holst den Karren und machst dich so schnell wie möglich auf den Weg zum Schuppen. Dort wirst du soviel Holz wie möglich aufladen und sofort wieder herkommen!“
„Aber was ist...“
„Hör mir zu!“, unterbrach Karson ihn und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Du nimmst Gregor mit. Bleibt nicht lange draußen. Holt das Holz und kommt schnell wieder zurück. Ich werde dir später erklären, was los ist. Aber jetzt dürfen wir keine Zeit verlieren!“
Naithan war enttäuscht darüber, wie ihn Karson der Unwissenheit überließ, doch fragte aus Rücksicht zu ihm nicht mehr weiter nach. Noch konnte er nicht ahnen, dass diese Nacht für beide tragisch enden würde.
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