0
Langsam erwachte ich wieder aus meiner Ohnmacht. In meinem Kopf drehte sich alles und mir wurde übel. Ich musste mich übergeben. Die Schwester von vorhin kam mit einer Nierentasse daher gerannt und reichte mir diese. Sie streichelte mir überden Rücken.
Als am späten Nachmittag die Visite zu mir kam, fragte ich die Ärzte ob ich den zu meinem Bruder dürfte. Sie antworteten mir, dass es keine so gute Idee wäre, aber rein aus gesundheitlichen Gründen würde nichts dagegen sprechen.
So raffte ich mich auf und setzte mich in den Rollstuhl der neben meinem Bett positioniert war. Als ich mich langsam mit dem Gefährt in Bewegung setzte ging die Zimmertüre auf. Meine Mutter stand plötzlich in der Türe und als sie mich sah stürmte sie auf mich zu. Sie nahm mich in den Arm und wir begannen beide fürchterlich zu weinen. Ich wollte ihr erzählen was passiert war, aber ich bekam kein einziges Wort heraus. Jedes Mal wenn ich ansetzte um etwas zu sagen schnürte es mir die Kehle zu und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Als sich die Situation etwas beruhigte, bat ich meine Mum mich zu Sean zubringen. Sie wollte es mir zuerst ausreden, gab dann aber relativ schnell auf, da sie merkte dass sie mich nicht umstimmen konnte. Ich spürte jede kleine Unebenheit im Boden während der Fahrt mit dem Rollstuhl. Die Ärzte hatten gesagt dass die Schmerzen von den „multiplen“ Prellungen kommen und dass ich mir vier Rippen gebrochen hatte. Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich zu meinem kleinem Bruder.
Wir standen plötzlich vor einer großen, schwer wirkenden, Türe auf der in großen Buchstaben stand „NEUROCHIRURGISCHE INTENSIVSTATION“. Man musste an der Türe läuten da sie von außen abgeschlossen war. Ein Pfleger öffnete uns und bat uns herein. Wir gingen einen sterilen Flur entlang bis wir vor einer großen, gläsernen Schiebtüre standen. Der Pfleger schob einen Teil der Türe zur Seite und ging mit uns zum hinteren Bett.
Dort lag Sean. Der Anblick war für mich fast unerträglich. Wieder spürte ich die Schwärze über mich hereinziehen aber dieses Mal gab ich nicht nach. Dieses Mal bin ich stärker, nicht nur für mich sondern auch für Sean. Er lag da und sah aus als ob er schlafen würde. Nur die Unmengen an Schläuchen täuschten über den Eindruck hinweg. Sein Gesicht war geschwollen und spielte alle Farben. Ander Schädeldecke fehlte ein Teil des Knochens, es sah so aus als ob sein Kopf dort eine Delle hatte.
Meine Mutter schob mich an sein Bett. Sie hatte wie immer ein hervorragendes Gefühl für Menschen, denn sie sagte sie muss kurz telefonieren, obwohl ich weiß dass sie mich mit Sean alleine lassen wollte.
Ich nahm seine Hand und begann leise mit ihm zu sprechen.
„Sean.....es tut mir so leid. Ich weiß dass es meine Schuld war. Wenn du mich hörst, gib nicht auf. Ich brauche dich.“
Wieder erstickten meine Worte in meiner Kehle und ich bemerkte dass mir Tränen über mein Gesicht kullerten. Ich versuchte nicht mehr zu sprechen, sondern ich wollte Sean durch meine Nähe zeigen dass ich da bin.
Als meine Mutter zurück kam blieben wir noch eine halbe Stunde bei ihm. Wir sprachen aber nicht viel sondern starrten Sean nur an, ungläubig und traurig. Danach begleitete Mum mich zurück ins Zimmer. Sie war so tapfer, man merkte ihr kaum was an. Im Zimmer angekommen gab sie mir einen Kuss auf den Kopf und sagte mir dass sie so froh sei, dass mir nicht so viel passiert sei und dass wir das Alles gemeinsam durchstehen werden. Wieder wollte ich ihr erzählen, was mir so auf dem Herzen brannte, doch als ich ihr in die Augen sah und diese Leere betrachtete brachte ich es nicht über mich. Wir verabschiedeten uns und sie versprach mir am nächsten Tag erneut mit mir zu Sean zu gehen.
Am nächsten Morgen kam meine Mutter schon kurz nach dem Frühstück zu mir. Wir unterhielten uns kurz und gingen dann gleich zu meinem Bruder auf die Station. Das was wir dort sahen verschlug uns beiden den Atem. Sean sah uns mit großen Augen an. Ich konnte es nicht fassen. Wir liefen zu ihm und stürzten uns auf ihn. Erst als die Apparate begannen Alarm zu schlagen ließen wir ihn wieder los. Wir waren sprachlos vor Glück.
Die Ärzte erzählten uns dass Sean in der Nacht aufgewacht sei er aber durch die Kanüle, die in seiner Luftröhre lag, nicht sprechen konnte. Deswegen kann man auch noch keinen genauen Bericht über seine aktuelle Situation abgeben, aber es sieht nicht so schlimm aus, wie anfangs erwartet. Das Einzige was den Ärzten aktuell Sorgen machte, war die Tatsache dass Sean seine Beine nicht spürte. Denn auf die Frage ob er Schmerzreize wahrnehmen konnte, schüttelte er nur den Kopf.
Wir gingen zurück zum Bett und „unterhielten“ uns mit ihm. Er beantwortete unsere Fragen entweder mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln. So nach zehn Minuten fiel mir plötzlich ein dass wir Sean noch gar nicht die Sache mit Dad erzählt haben. Ich bat meine Mutter kurz mit mir das Zimmer zu verlassen und sprach sie darauf an.
„Mum, wann willst du es ihm sagen.“
„Was sagen, Aiden?“
„Mum du weißt es genau. Er muss es erfahren.“
„Ich kann es nicht. Das er wach ist, ist die erste gute Nachricht seit Tagen.“
„Mum.....er wird es dir nie verzeihen wenn du es ihm nicht sagst.“
“Ich weiß Aiden. Ich kümmere mich drum, ich verspreche es dir.“
“Okay.“
Ich wusste dass es nicht einfach wird aber Sean musste es einfach wissen. Als wir ins Zimmer zurückkamen, sah er uns ziemlich verunsichert an. Meine Mutter konnte nicht mehr und brach in Tränen aus. Sie erzählte ihm was passiert war. Sean reagierte anfänglich gar nicht, er blickte ins Leere und ich konnte in seinen Augen keine Regung erkennen. Als Mum fertig war sah er mich an. Er sah mir tief in die Augen und ich spürte ein Brennen in mir. Es war wieder da, das Schuldgefühl. Doch schlagartig änderte sich der Blick und ich spürte dass Sean mir keine Schuld gab. Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich umarmte ihn. Sean schien nun sehr müde zu sein und der Pfleger bat uns darum, ihm etwas Ruhe zugönnen.
Wir verließen die Station und gingen zurück zu meinem Zimmer. Am Gang trafenwir den Arzt. Er mir sagte, das wenn sich meine Werte nicht verschlechtern, ich in zwei bis drei Tagen nach Hause gehen durfte. Ich konnte mich über diese Nachricht nicht wirklich freuen, da ich wusste dass Sean sicherlich noch länger bleiben musste....
Lesezeichen