Das monströse Genie

Von Marc Pitzke, New York
Er war die größte Popsensation der vergangenen Jahrzehnte - und zum Ende ein Freak, die traurigste Figur des Showbiz. Michael Jackson, gestorben an einem Herzstillstand im Alter von 50 Jahren, hatte ein Leben wie kein anderer Megastar: immer zerrissen zwischen Traum und Tragik, Gut und Böse.
Es war genau 23.26 Uhr in der vergangenen Nacht, als Michael Joseph Jackson im UCLA Medial Center in Los Angeles wegen Herzstillstands für tot erklärt wurde.
Es war der 13. Juni 2005, als jener Popstar Michael Jackson zu existieren aufhörte, den die Welt gekannt und verehrt hatte.

MICHAEL JACKSON: BILDER EINER (ALP-)TRAUMKARRIERE


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An jenem Sommertag in Kalifornien traten zwölf Geschworene in den Saal 102 des Bezirksgerichts von Santa Maria, um ihr Urteil zu verkünden über den gestürzten "King of Pop". Den größten Hitmacher der Musikgeschichte. Den Freak. Es war ein Freispruch - auf dem Papier. Lediglich "reasonable doubt", berechtigter Zweifel, hielt jene Jury davon ab, Jackson wegen sexuellen Missbrauchs eines 13-Jährigen zu verurteilen, und sie machte das auch sehr deutlich. Noch am selben Abend lud Jackson zu einer "Siegesfeier" auf seine Neverland Ranch - und verschwand dann mit den Worten: "Ich werde hier nie wieder leben."
Der Sensationsprozess, Ausrufzeichen hinter einem langen Abstieg in die Groteske, hatte Michael Jackson gebrochen, physisch wie psychisch. Er beraubte den ewigen Kinderstar, der selbst nie eine Kindheit hatte, endgültig seiner Unschuld, die er in der Spielzeugwelt von Neverland noch zu wahren versucht hatte.
Das öffentliche Leben des Michael Jackson war in den letzten Jahren eine einzige Skurrilität. Bis er im Januar nach dreieinhalbjähriger Odyssee durch die Welt schließlich doch noch in die USA zurückkehrte und im März in London ein Comeback verkündete. Fans campierten damals tagelang, um ihn bei der nur zweiminütigen Pressekonferenz zu Gesicht zu bekommen. Die erst zehn, dann 50 Konzerte waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft.
1,1 Millionen Tickets. Weltrekord.
Das waren die zwei Gesichter des Michael Jackson: das Monster, mehr Alien als Mensch, geliftet, erbleicht, am Ende abgemagert zum Skelett. Das Genie, das den Pop neu erfand, mehr Alben verkaufte als sonst wer (das "Guinness-Buch" führt ihn als "erfolgreichsten Entertainer aller Zeiten"), von Massen verehrt wurde - vor allem aber von seinen musikalischen Erben, die ohne ihn nie wären und die sein Ableben nun mit einer beispiellosen Kondolenzflut beweinen: Beyoncé, Usher, Justin Timberlake, um nur drei von vielen, vielen zu nennen.
Jackson, der Abermillionen verdiente und wieder verlor, war eine Ikone zwischen Traum und Tragik, Gut und Böse. Nicht umsonst hieß einer seiner größten Hits "Black or White".
Diese Polarisierung zog sich nun bis in seinen frühen Tod mit nur 50 Jahren, im UCLA Medical Center in den duftenden Hügeln am Sunset Boulevard. Selbst sein Sterben hielten manche anfangs noch für einen makabren Publicity-Stunt - bis dann Gewissheit einkehrte und sich nun eine weltweite Trauergemeinde versammelt, vor allem an jenen zwei Orten, die Anfang und Ende seines öffentlichen Lebens markierten. In Los Angeles, wo Tausende vor der Klinik ausharrten, obwohl es nichts mehr zu sehen gab außer TV-Teams, und in New York, wo sich weinende Mengen vor dem Harlemer Apollo-Theater versammelten. Jackson war dort 1969 erstmals aufgetreten, als Kinderstar im Alter von elf Jahren, mit seinen Geschwistern als Jackson Five. Das Apollo-Theater änderte ihm zu Ehren seine Leuchtmarkise, eine Seltenheit: "In memory of Michael Jackson, a true Apollo legend". Davor, auf der 125th Street, sangen die Leute "Billie Jean" zu den Klängen einer Boombox.
Solche Aufwallung, solche Hysterie gab es zuletzt bei Elvis Presleys Tod. "Ich kann gar nicht aufhören zu weinen", bekundete die gleichaltrige Madonna, die Jacksons Jekyll-und-Hyde-Parallelwelt aus Prominenz und Infamie, Ruhm und Schmach noch am nächsten kam. "Jetzt leidet er nicht mehr", sagte der Bürgerrechtler Jesse Jackson, ein alter Freund, der ihn durch den Prozess begleitete. Jacksons Herz, wusste auch Reverend Al Sharpton, ein anderer Weggefährte, sei lange gebrochen worden, bevor es zu schlagen aufgehört habe. Sheryl Crow, 47, erinnerte sich auf CNN an gemeinsame Achterbahnfahrten in Disneyland, bei denen Jackson nie gewollt habe, dass sie endeten. Älterwerden war nicht sein Ding - wie Peter Pan war er in Nimmerland gefangen. "Haben wir geglaubt", sinnierte Crow, "dass er vor unseren Augen zum Greis werden würde?"
Kind durfte er früher ja nie sein. Vater Joe prügelte ihn zum Erfolg, als jüngstes und talentiertestes Mitglied der Jackson Five, samt den älteren Brüdern Jackie, Tito, Jermaine und Marlon. Erst 1993 sprach Jackson öffentlich über die Misshandlung, doch selbst zehn Jahre später begann er bei dem Thema noch zu weinen - in der skurrilen TV-Dokumentation "Living with Michael Jackson" (2003), deren Enthüllungen wiederum zu seinem eigenen Missbrauchsprozess führten.
Mit 14 begann er seine Solokarriere, mit 24 produzierte er das Album "Thriller", das sich 80 Wochen in den Top Ten hielt. Es gilt als meistverkauftes Album überhaupt, und das bahnbrechende Video des Titelsongs wurde zum Kultphänomen. Mit 25 zierte Jackson das Cover von "Time", das ihn zum "Ein-Mann-Rettungstrupp für die Musikindustrie" erhob. "Er war der absolute Perfektionist", sagte Tommy Mottola, der Ex-Chef von Sony Music, mit dem sich Jackson 2001 überwarf. Perfektionismus - der klassische Ausgleich für das ewige Gefühl von Minderwertigkeit. 13 Grammys, 13 Nummer-eins-Singles, 750 Millionen verkaufte Alben: Die Bilanz seiner Karriere ist einmalig.
Mit "We Are the World", dem Charity-Gruppenhit, den er 1985 mit Lionel Richie schrieb, brachte er 45 Megastars zusammen. Darunter Stevie Wonder, Paul Simon, Tina Turner, Diana Ross, Cyndi Lauper, Bruce Springsteen, Bob Dylan und Ray Charles.
Er war der erste Afroamerikaner, der alle Schichten, alle Rassen begeisterte. Der MTV erst zu dem machte, was es heute ist - dank seines unverwechselbaren Sounds, seines weißen Glitterhandschuhs, vor allen seiner unendlich innovativen Videos. Er war "ein Wegbereiter, lange vor Tiger Woods, lange vor Oprah Winfrey, lange vor Barack Obama", rief Al Sharpton vor dem Apollo Theater.
Seine größten Erfolge hatte Jackson in den achtziger und frühen neunziger Jahren. Seine Welttournee 1987/89 brach alle Rekorde. 1991 verlängerte er seinen Vertrag mit Sony für 65 Millionen Dollar, mehr, als je ein Sänger zuvor erhalten hatte. Sein Halbzeit-Auftritt beim Super Bowl 1993 zog 135 Millionen US-Bürger vor die Fernseher.
Doch in den folgenden Jahren hastete er seinem alten High hinterher wie einer Droge - während ihn die Dämonen der Vergangenheit nicht losließen. Seine Nase war seit einem Bruch 1979 kaputt - Anfang eines lebenslangen Alptraums plastischer Chirurgie, welche sein Aussehen komplett veränderte. Seine Kopfhaut erlitt 1984 bei einem Unfall schwere Verbrennungen. Jackson wurde schmerzmittelsüchtig. Seine Haut, einst dunkel, wurde immer heller - aus Absicht, sagten die einen, als Nebenwirkung von Medikamenten, sagten andere. Die Wahrheit blieb hinter seinem fetten Make-up verborgen.
Einige andere Skurrilitäten rückte er selbst ins Zentrum, aus PR-Gründen, aus Rebellion - Jackson war da "unbedarft und ein Schlitzohr zugleich", sagt John Landis, Regisseur seiner Videos zu "Thriller" und "Black or White". Da war die Sauerstoffkammer, die den Altersprozess hemmen sollte. Der Schimpanse Bubbles, mit dem er das Klo zu teilen behauptete. Die dramatischen Gewichtsschwankungen. Die Mär, er habe die Knochen des legendären "Elefantenmenschen" erwerben wollen.
1988 kaufte er sich Neverland, sein privates Disneyland in den Hügeln Kaliforniens. Die Ranch umfasste tausend Hektar, samt Privatzoo und Kirmes mit Riesenrad, Karussell und Eisenbahn. Jackson wohnte im Haupthaus, inmitten von Spielzeugen, Puppen und Kunst. Statt Jackson aber Geborgenheit zu geben, brachte Neverland ihm den Ruin. Er bevölkerte das Anwesen mit Kindern, sah keine Schranken zwischen ihnen und ihm - und so nahmen Gerede und Gerüchte ihren Lauf. Ein erstes Kindersex-Verfahren endete 1993 im außergerichtlichen Vergleich, bei dem Jackson 25 Millionen Dollar Schweigegeld gezahlt haben soll. Der Stress trieb ihn zu Valium, Xanax, Ativan - und in die kurze Ehe mit Elvis' Tochter Lisa Marie Presley. Dann kam der Prozess 2005, der zum Medienspektakel geriet. Jacksons seltsame Szenen vor Gericht machten ihn endgültig zur Monstrosität. Jackson floh nach dem Freispruch nach Bahrain, Las Vegas, Europa, versank in Schulden, zuletzt sollen es 400 Millionen Dollar gewesen sein. Neverland stand lange zum Verkauf, doch keiner wollte es. Schließlich trat Jackson die Ranch an eine Investmentfirma ab.
Er war längst ein Relikt der Platten-Ära, ein Museumsstück, dessen Stil sich seit seiner letzten Tournee 1997 nicht weiterentwickelt hatte. Sein letzter Live-Auftritt 2006 war eine Blamage. Bei den World Music Awards sang er nur die ersten Zeilen von "We Are the World", dann stürzte er von der Bühne.
In der vergangenen Nacht flimmerte das angeblich letzte Foto von Jackson über die US-Bildschirme. "Exklusiv beschafft" von der Klatsch-Show "Entertainment Tonight", die seine Karriere begleitet hat wie ein wohlwollender Barrakuda. Jackson wird auf dem Bild auf einer Krankenbahre aus seiner Mietvilla geschoben.
Schlauch im Mund, Augen geschlossen - ein Quotenhit bis ins Jenseits.


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